: Der gute Mensch von Bangalore
In Bangalore stirbt der 77-jährige Filmschauspieler Rajkumar, seit Jahren schon in Pension, an einem Herzversagen. Die Leiche soll in seinem Haus aufgebahrt werden. Auf Rat der Polizei wird die Feier in ein Filmstudio verlegt, und als sich immer mehr Trauergäste einfinden, in einen Stadtpark.
Auf dem Weg dahin kommt es zu einem Volksauflauf, und der Leichenzug wird in ein Stadion umgeleitet. Dieses füllt sich rasch, die Polizei sperrt den Eingang, muss Schlagstöcke einsetzen, schließlich Tränengas. Die jugendlichen Anhänger werden gewalttätig, setzen Autos in Brand. Als die Leiche im Trauerzug zur letzten Ruhestätte – einem Filmstudio – geführt wird, überträgt sich die Erregung auf die aus dem Stadion strömenden Menschen. Polizei-Jeeps, Busse, Fernsehwagen, Ambulanzen werden angegriffen, Tankstellen und Kinos, wo noch immer Filme des Matinee-Idols gespielt werden, werden in Brand gesteckt, ein Hotel wird ausgeraubt und angezündet. Ein Polizeibeamter wird gelyncht, worauf die Polizei das Feuer eröffnet. Am Ende des Tages haben sechs Menschen den Filmhelden in den Tod begleitet, 150 liegen verletzt in Krankenhäusern.
Rajkumar, der erfolgreiche Sohn eines verarmten fahrenden Schaustellers, war kein John Wayne oder Charles Bronson, auch kein aufdringlicher Bollywood-Macho. Vierzig Jahre lang spielte der Star der lokalen Karnataka-Filmindustrie den guten Menschen von Bangalore, den romantischen Liebhaber, folgsamen Sohn, treuen Ehemann. Die Rolle stand ihm so gut, dass er sie auch lebte. Er war der „Mister Clean“, der weder rauchte noch trank, der Yoga übte und sorgfältig darauf achtete, nicht von Politikern vereinnahmt zu werden.
Rajkumar hatte sich für die Lokalsprache Kannada eingesetzt und die Schönheit der Region ins Bild gebracht. Für eine Jugend, die sich in regionalen, nationalen und nun globalen Identitäten verrannte, war er der einzige verbliebene moralische und kulturelle Halt. Von den Politikern verraten, von zugewanderten jungen Wissensarbeitern an die Wand gespielt, suchten sie Schutz in den zahllosen Rajkumar-Fanklubs und sahen sich endlos seine Filme an. Doch als Rajkumar am vergangenen Mittwoch starb, starb auch seine Zelluloidgestalt. Trauer und Wut entluden sich auch auf die Kinos, in denen „Annavru“ – ihr „älterer Bruder“ – seine Triumphe gefeiert hatte. BERNARD IMHASLY