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Archiv-Artikel

Der fremde Wille ersetzt den Schlaf

So funktioniert Kapitalismus plus Schizophrenie: Brad Andersons Thriller „The Machinist“ hat einen schlaflosen Helden

Ein Mann und ein Junge in der Geisterbahn. Auf der Fahrt vertauschen sich die Rollen von Beschützer und Beschütztem. Dem Mann wird übel von Nervosität, der Junge reagiert eher belustigt auf die Licht- und Schockeffekte aus Pappmaché, unsichtbaren Fäden und klappernder Mechanik. Der Wagen erreicht eine Abzweigung: Rechts wartet die „ewige Erlösung“, links die Verdammnis auf dem „Highway to Hell“. Natürlich steuert der Junge die linke Route an. Irgendwann gegen Ende des Films kommt raus: den Jungen gab es gar nicht, der ist vor langer Zeit bei einem Unfall umgekommen, die Fahrt in der Geisterbahn fand vielleicht irgendwann einmal statt, als der Mann selbst noch ein Kind war. Die Höllenfahrt hat er sich selbst eingebrockt.

Mit solchen Abzweigungen arbeitet der grünstichige Psycho-Horror-Hunger-Thriller „The Machinist“ von Brad Anderson ständig. Die führen gleichzeitig nach links und rechts, hinten und vorn, in die Vergangenheit und in die Zukunft, in die Freiheit und in den Schizo-Zustand. Die Frage dazu lautet stets: Wie schafft man es, beide Wege zugleich zu wählen? Wie den Verlust, der durch die Wahl an der Abzweigung entsteht, wieder aufwiegen? Folgende Möglichkeiten gibt es:

Erstens, die materielle Ebene. Der Verlust eines Arbeiterarmes durch die Maschine wird kompensiert durch finanzielle Abfindung vom Fabrikchef. So funktioniert Kapitalismus plus Sozialleistungsanspruch. Arbeiterhände, durch Maschinen ohnehin unnütz geworden, werden durch Rentnerdasein mit Sportwagen ersetzt.

Zweitens, die Schizo-Ebene. Da wird der Schauspielerkörper auf die Hälfte heruntergehungert, damit Platz wird für ein zweites Ich, das dann genau so unausstehlich und feist grinsend auftritt, wie es das erste Ich selbst eigentlich gerne täte und sich bloß nicht traut. Wie bei Kafkas Hungerkünstler wird der eigene Körper ersetzt durch den eines jungen Panthers, „diesen edlen, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestatteten Körper, der auch die Freiheit mit sich herumzutragen schien“. Der muss dann genauso daherkommen und aussehen und verrätselt reden, als sei er der bösartige kleine Bruder von Lawrence Fishburne in „The Matrix“. Bloß ist bei Anderson Morpheus kein Gott des Schlafes und der Träume, sondern einer, der lieber Schlaflosigkeit und Albträume produziert. So funktioniert Kapitalismus plus Schizophrenie.

Drittens, die Polizei-Ebene. Anfang diesen Jahres lief in Großbritannien die Reality-TV-Psycho-Show „Shattered“. Darin ging es für zehn mehr oder minder Freiwillige darum, eine Woche lang ohne Schlaf auszukommen, pro Tag war jeweils gerade mal eine Stunde Nickerchen gestattet. Wie immer gab es Haftverschärfungen. Die Teilnehmer mussten stundenlang Videos mit gähnenden Menschen ansehen oder Wandfarbe beim Trocknen betrachten.

Zen-Fernsehen für das 21. Jahrhundert: Leuten zusehen, die verzweifelt versuchen, sich nicht zu langweilen. Die meisten verabschiedeten sich mit Halluzinationen, Gleichgewichtsstörungen oder Verfolgungswahn aus der Sendung. Am Ende überstand als Einzige eine 19-jährige paranoiaresistene Polizeischülerin. Schlaf wird ersetzt durch einen fremden Willen, den inneren Polizeistaat. Das Auge des Gesetzes blinzelt nie.

DIETMAR KAMMERER

„The Machinist“. Regie: Brad Anderson. Mit Christian Bale, Jennifer Jason Leigh, Spanien 2004, 90 Min.