■ Der erste Aids-Prozeß gegen den rumänischen Staat: Schuldbewußtes Schweigen
Bukarest (taz) – Der Fall eines sechsjährigen Mädchens beschäftigt derzeit die rumänische Öffentlichkeit: der Fall von Ioana Iasmina Calinciuc aus der nordostrumänischen Stadt Jassy. In den vergangenen Jahren war die Kleine insgesamt sechsmal im städtischen Krankenhaus „Heilige Maria“ interniert, wurde einmal im Mund operiert, mehrmals geimpft und später zu Hause mit Injektionen behandelt. Die Folge: Ioana Iasmina infizierte sich mit dem Aids- Virus. Mitte Januar nun verklagten die Eltern des Mädchens das Krankenhaus in Jassy und das rumänische Gesundheitsministerium.
Der erste Aids-Prozeß gegen den rumänischen Staat hat nicht nur in den Medien des Landes, sondern auch in der Öffentlichkeit eine Lawine von empörten Reaktionen ausgelöst. Zeigt der Fall von Ioana Iasmina doch exemplarisch die katastrophalen Bedingungen im rumänischen Gesundheitswesen auf, vor allem, was Aids betrifft. Zwar sind in Rumänien derzeit nur 2.907 Aids-Fälle registriert (Stand: Dezember 1994). Darunter befinden sich jedoch 2.725 Kinder, also rund 94 Prozent aller Fälle, wobei die überwiegende Mehrheit Kinder im Alter von bis zu 4 Jahren sind. So hält Rumänien mit 54 Prozent aller Aids-infizierten Kinder Europas nicht nur den Rekord. Bis auf wenige Ausnahmen wurden auch alle Kinder bei ärztlichen Behandlungen mit HIV infiziert. Grund sind verseuchte Blutkonserven oder schlecht desinfiziertes medizinisches Gerät. In den vergangenen Jahren hat sich daran offenbar wenig geändert. Spezialisten vermuten deshalb, daß bisher noch mehrere tausend Fälle Aids- infizierter Kinder unentdeckt blieben.
Im rumänischen Gesundheitsministerium herrscht unterdessen „schuldbewußtes Schweigen“, wie die Mutter von Ioana Iasmina, Violeta Calinciuc, klagt. Die Gesundheitsbehörden im Kreis Jassy versuchten kürzlich, den Zutritt für die Medien zu Krankenhäusern einzuschränken. Statt Kontrollen in Krankenhäusern zu verschärfen, wurde lediglich die „Nationale Aids-Komission“ des Ministeriums beauftragt, die Umstände von Ioana Iasminas Aids-Infektion zu klären. Eine Sprecherin des Ministeriums sagte jedoch schon vorab, daß „es unmöglich ist, die Schuldigen zu finden“, weil nach den zahlreichen Behandlungen des Mädchens der Zeitpunkt der Infektion nicht mehr festzustellen sei. Violeta Calinciuc meint, damit solle die Verantwortung allein auf das betreffende Krankenhaus abgewälzt werden, obwohl das „ganze Gesundheitssystem inkompetent, korrupt und zerstörerisch“ sei und „überall und jederzeit die Gefahr besteht, sich mit Aids zu infizieren“.
Renate Weber, Mitglied des rumänischen Helsinki-Komitees, kritisiert ihrerseits, daß „der rumänische Staat der einzige in Europa ist, der Betroffenen noch keine Entschädigungen gezahlt hat“. Zumindest hat der Prozeß des Ehepaares Calinciuc Dutzende von Eltern, die sich in der gleichen Situation befinden, veranlaßt, selbst gegen rumänische Gesundheitsbehörden zu klagen. Das Helsinki-Komitee will den Eltern Aids-infizierter Kinder nun juristische und finanzielle Hilfe leisten.
Der Direktor des Jassyer Krankenhauses, in welchem sich Ioana Iasmina infizierte, Dr. Marin Burlea, sieht mit der kommenden Prozeßwelle die Autorität der Mediziner untergraben und fürchtet die Entschädigungssummen, die zu zahlen wären. „Es tut mir leid, daß die Mutter von Ioana Iasmina in ihrem Schmerz nicht verstehen kann, daß der Virus überall auftreten kann. Wenn alle HIV-Positiven in Rumänien gegen die Gesundheitsbehörden prozessieren, dann müßten wir ja alle dichtmachen.“ Keno Verseck
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