KOMMENTARE: Der einzige Weg
■ Die Entwicklung einer Politik supranationaler Verantwortung ist ohne Alternative
Zu Beginn der Woche lief einer der Reaktoren bei Sosnovy Bor aus dem Ruder. Die Risiken der russischen Energieversorgung müssen mit westlichem Geld und Know-how gemindert werden. Solche Hilfen machen aber nur Sinn, wenn damit auch Auflagen und Kontrollen erzwungen werden. Schrottreaktoren sind nicht das innenpolitische Privatvergnügen eines Staates. Die Atom- Souveränität bedarf der Eingrenzung. Was im Fall des Reaktors vergleichsweise einfach und plausibel erscheint, ist rechtlich noch nicht möglich. Es gilt, ein internationales Atomrecht zu entwickeln, das die Souveränität einzelner Staaten relativiert.
Rechtlich möglich, aber schwieriger, sind Interventionen, wenn die Grundrechte von Menschen, Völkern und Minderheiten verletzt werden. Der Krieg gegen die Kurden weit hinten in der Türkei ist nicht die „innenpolitische“ Privatangelegenheit der vordemokratischen Herren in Ankara. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien sind keine „inneren“ Konflikte zwischen feindlichen Brüdern, die andere nichts angingen — der Krieg in Nagorny-Karabach, die im Kaukasus noch drohenden Kriege genausowenig. Die beteiligten Konfliktparteien sind der UNO-Menschenrechtskonvention und der KSZE-Schlußakte verpflichtet.
Die Tragödien, die sich dort ereignen, wo Menschen zwischen die (Bürger-)Kriegsfronten geraten und zu unschuldigen oder auch schuldigen Opfern werden, sind aus der Perspektive des einzelnen dramatischer als das Strahlenwölkchen bei St. Petersburg. Aber mit technischer Hilfe allein, mit Geld und guten Worten, sind diese Konflikte nicht zu lösen. Erforderlich sind massive wirtschaftliche, diplomatische und notfalls militärische Interventionen. Die Ereignisse dieser Woche stimmen optimistisch:
— Die am Dienstag in Helsinki eröffnete KSZE- Folgekonferenz beschloß die Einmischung in Nagorny-Karabach. Der derzeitige Vorsitzende des Außenministerrats der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der Tscheche Jiri Dienstbier, wird Armenien und Aserbaidschan, aber auch Vertreter aus Karabach, zu einer Friedenskonferenz nach Minsk einladen. Derweil fordert Genscher konsequent KSZE-eigene Blauhelmtruppen, sein französischer Kollege Dumas ein eigenes europäisches Schiedsgericht für die Beilegung von Streitigkeiten. Die KSZE muß sich, nachdem sie in Jugoslawien versagte, zur regionalen Unterorganisation der UNO entwickeln. Damit wird sie auch zum Gegengewicht der USA, stellt deren noch kaum angefochtene Dominanz im Sicherheitsrat der UNO mittelfristig in Frage.
— Die UNO-Kommission, die die Zerstörung der Massenvernichtungsmittel im Irak überwacht, setzt ihre Arbeit zäh und beharrlich fort. Gelegentliche Drohgebärden sind notwendig, um den Diktator Saddam Hussein zum Einlenken zu zwingen, aber am Ende wird es im Irak keine Massenvernichtungswaffen mehr geben.
— Die USA und Großbritannien bemühen sich um die Auslieferung der beiden Libyer, die unter dem Verdacht stehen, 1988 eine Bombe an Bord jenes PanAm-Jumbos geschmuggelt zu haben, der über dem schottischen Lockerbie explodierte. Briten und Amerikaner wollen ihrem Begehren mit Hilfe einer Resolution des UN-Sicherheitsrats Nachdruck verleihen. Sie fordern ein Ultimatum, also die Androhung von Sanktionen. Dieses Instrument ist seit dem Krieg um die Rückgängigmachung der irakischen Annexion Kuwaits ernst zu nehmen. Die Arabische Liga — ebenfalls ein supranationaler Staatenverbund — vermittelt. Libyen hat den Internationalen Gerichtshof in Den Haag angerufen. Die Entscheidungen des Gerichtshofes wurden in der Vergangenheit vielfach ignoriert, aber die jetzige Entscheidung wird Gewicht haben.
— Bleibt die Türkei. Sie war Frontstaat der Nato: Flanke zur Sowjetunion, zum Iran und zuletzt zum Irak. Die demokratischen Qualitäten dieses Landes galten, wie im Zeichen des Kalten Krieges üblich, als quantité négligable. Im Schatten der militärischen Funktion des Landes gedieh die antikurdische Soldateska, gediehen Repression, Bombardements und Ansätze zum schieren Genozid. Die Bonner Regierung, die Türken mit Tanks und Kanonen versorgt, gerät in Panik. „Haltet den Dieb“, ruft schlitzohrig Außenminister Genscher, um von der deutschen Rolle bei der Aufrüstung der türkischen Bürgerkriegsarmee abzulenken. Auch wenn die Motive und die Vorgeschichte zu allen Zweifeln Anlaß geben — die Forderung ist richtig: Die Mißachtung der Menschen- und Minderheitsrechte, die die türkische Regierung als „Aufstandsbekämpfung“ beschönigt und dafür bis vorgestern aus Bonn Beifall erhielt, müssen von EG und KSZE nicht nur zurückgewiesen, sondern auch sanktioniert werden. Seit dem Golfkrieg hat die Türkei aufgehört, Frontstaat zu sein. Sie benutzt ihre Nato-Waffen zur Einschüchterung der Nachbarn und der eigenen Bevölkerung. In diese Region dürfen keine Waffen mehr geliefert werden.
Internationale Organisationen müssen in regionale Konflikte eingreifen. Solche Intervention ist keine ausländische Einmischung, sondern supranationale Notwendigkeit der praktischen Vernunft. Es gibt keine Souveränität, die das Diskriminieren und Morden von Minderheiten erlaubt. Genauer gesagt: Noch ist diese Art barbarischer Souveränität nicht völlig überwunden — leider. Sie entstammt dem politischen Denken der Kabinettspolitik des vorigen Jahrhunderts. Doch sind UNO und KSZE in den letzten beiden Jahren dabei, diese Art von Souveränität zu delegitimieren. Das geschieht in einem selbstverständlich widersprüchlichen, sicherlich auch interessengeleiteten Prozeß. Supranationale Konfliktregelungen müssen entwickelt, gelernt und akzeptiert werden. Der Weg dorthin ist, wie man im ehemaligen Jugoslawien sieht, schwierig. Aber es ist der einzig mögliche. Götz Aly
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen