■ Der deutsche Geist und die neuen „Tagesthemen“:: Keine Angst vor der Wetterkarte!
Frankfurt (taz) – Wie wahr: Deutschland ist die Heimat der Gründlichkeit. Es gibt nun mal Stereotypen, an denen mehr als nur „was dran ist“. Mit dem genetisch eingebauten Meister Proper im Kopf werden gar manche intellektuelle Geister Germanias schlicht nicht fertig. Kein Witz: In der liberalen Süddeutschen Zeitung regte sich kürzlich einer mit ernster Federmiene über „die Wülste bei den Tagesthemen“ auf.
Eine fundamentale Kritik an der zu oft in den Fernsehbeiträgen sehr staatstragend und fremdwortbeladen daherkommenden Sprache? Weit gefehlt. Der Kritiker meinte in der medienscheltenden Rubrik „So gesehen“ ohne den kleinsten Anflug von Ironie die neue Studiodekoration des Hamburger ARD- Flaggschiffs. Sie sei, sinngemäß kurzgefaßt, eine Katastrophe. Der Heilige Gral der intellektuellen Fernsehdeutschen – bis zur Unkenntlichkeit entstellt! Das Wort Gotteslästerung kommt ihm nicht über die Zeilen. So weit wollte Gottfried Knapp es dann, um seiner verbalen Radikalakrobatik einen Anstrich von Objektivität zu verleihen, doch nicht treiben.
Ganze 104 Zeilen lang verwendete der Journalist im Schweiße seines Angesichts darauf, jedes Detail der seit dem 1. Januar komplett renovierten Moderationstische und Hintergrundtafeln zu beschreiben und seine optische Wirkung mit allerhöchster Seriosität auseinanderzunehmen. Nur ein einziger Grafikbaustein der stillen Revolution blieb von negativem Urteil verschont: die blaugetönten, durchsichtigen Schrifteinblendungen, die den Ereignisort oder die Autoren von eingespielten Beiträgen wiedergeben. „Sie rollen elegant von der Seite heran und nennen dann artig das Thema oder den Korrespondenten beim Namen; sie bringen zarte Pastelltöne ins Spiel – wie man sie so im Nachrichtenalltag noch nicht gesehen hat – und lassen den Bildern Luft, mauern das Geschehen nicht ein.“ Ansonsten – oh Gott – stimmt's im neu erdachten Schwitzkasten für Ulrich Wickert, Sabine Christiansen und Co. hinten und vorne nicht.
Beispiel Weltkarte. Die jagt dem empfindlichen SZ-Spezialisten fürs Penible „richtig Angst“ ein. Sie sei aus seltsam glitzernden, großen, runden Noppen zusammengesetzt, die wie Stangen die blaue Wand durchbohrten. Originalton Knapp: „Jedenfalls sieht das Ganze, wenn der Kamerastandpunkt wechselt, aus, als seien zahllose Gewehrläufe auf den Betrachter gerichtet oder als lägen überall dort, wo auf der Erde Land ist, Tellerminen von der Größe des Pfaffenwinkels herum.“ Unfaßbar, jawoll. Aus sämtlichen geometrischen Formen des reformierten Designs donnern für ihn die Boten des Krieges. Wohl ein Grund, warum Ulrich Wickert seit neuestem so merkwürdig schelmisch und gequält zugleich dreinschaut. Angesichts der Riesennägel an der Wand könnte er es auch leid haben, Abend für Abend Fakir- Qualitäten zu entwickeln.
Zweites Beispiel: Tischreihe. Die passend zu den dominierenden Blautönen maritim geschwungene neue Komposition der vier Moderationsfurniere schimpft der scharf blickende Kritiker „eine Art Hotelrezeption“. Die Tische seien „siamesisch verwachsen“ und von „bengalischen (!) Lichtstreifen“ akzentuiert. Uaah, wie schrecklich! Gestört wird die mißlungene Ästhetik der Möbel, die das Studio größer erscheinen lassen sollen, laut Knapp zu allem Überfluß „durch rhythmisch angeschwollene [...] senkrechte Wülste“ – einer Kanzel gleich. Was dort verlesen werde, mache zwangsläufig dem „Wort zum Sonntag“ Konkurrenz. Auf diese Weise schließt sich der Kreis seiner, nein, die gründliche Nation umtreibenden Mängelliste in eine fulminante Selbstinterpretation. So gesehen... Deutschland, deine Tugenden! Franco Foraci
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