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Der aus dem Nichts kam

Owen Hargreaves vom FC Bayern München ist die neue Hoffung des englischen Fußballs und soll heute im Londoner Testspiel gegen die Niederlande erstmals mit dem Nationalteam auflaufen

aus Saint Albans RONALD RENG

Owen Hargreaves hatte den Blick nun schon eine gute halbe Minute auf den Rasenplatz gerichtet. War er so eingeschüchtert vor seinem ersten Training mit der englischen Nationalelf? Nein, nur so fasziniert von David Beckhams neuesten Fußballschuhen, weiß mit silbernen Streifen, eingewoben in die roten Laschen der Name von Beckhams Sohn: Brooklyn. Englands modebewusster Mannschaftskapitän ist es gewohnt, dass er die Blicke auf sich zieht. Bloß an diesem Mittwoch beim Länderspiel in London gegen die Niederlande, Englands letztem Test vor der entscheidenden WM-Qualifikationspartie gegen Deutschland, wird die Fußballnation weniger auf Beckhams Schuhe als Hargreaves auf die Füße schauen.

Mit brennender Neugier und schon leicht hysterischer Zuneigung entdeckt England seine neueste Hoffnung – vor einem halben Jahr hat man auf der Insel noch nicht einmal gewusst, dass es ihn gibt. Auf einmal, im April beim Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid, war da dieser 20-jährige Kanadier im Mittelfeld von Bayern München, und am nächsten Tag war von dem Spiel nichts mehr zu lesen in den englischen Zeitungen: Die Korrespondenten schrieben nur noch über Hargreaves, der mit 16 zum Fußballspielen aus Calgary nach München gezogen war, aber als Sohn ausgewanderter Briten für England spielberechtigt ist. Die Faszination für den Jungen hat nie mehr nachgelassen. „Der Auserwählte“, schrieb die Zeitung Daily Express, als er nun erstmals in die Nationalelf berufen wurde, darunter ein Foto von Hargreaves, das stilistisch in die Gattung Heiligenmalerei passen würde. So einen Nationalspieler – der aus dem Nichts kam – hatte England noch nicht gesehen.

Tatsächlich ist es, gelinde gesagt, etwas verblüffend, dass ein 20-Jähriger, der gerade mal 17 Bundesligaspiele bestritt, so jäh ins Nationaltrikot gesteckt wird. Und nach aller Wahrscheinlichkeit wird Hargreaves, wenn es im September gegen Deutschland ernst wird, auch wieder auf die Ersatzbank oder sogar ins Juniorenteam zurückversetzt. Doch der Ausfall des verletzten Steven Gerrard vom FC Liverpool garantiert ihm gegen die Niederlande ein Startrecht; für die Engländer die Gelegenheit, Hargreaves endlich kennen zu lernen.

„Taktisch bin ich wirklich ein Deutscher“, erklärte er nach dem ersten Training am Montagabend den Journalisten im Gartenpavillon des Sopwell House Hotel, dem Mannschaftsquartier in Saint Albans. „Aber grätschen kann ich wie ein Engländer“, schob er schnell nach. Was die Engländer allerdings mehr interessierte, war, ob er Elfmeter schießen kann wie ein Deutscher. „Ich schieße gerne“, sagte Hargreaves, „nach jedem Training bei Bayern übe ich ein bisschen gemeinsam mit meinem Kollegen Mehmet Scholl.“ Dann könne er den englischen Spielern ja zeigen, wie es gehe, sagte der Reporter des Mirror, offensichtlich immer noch nicht darüber hinweg, dass England 1990 und 1996 zweimal im WM- beziehungsweise EM-Halbfinale im Elfmeterschießen gegen Deutschland verlor. Nein, sagte Hargreaves, das könne er nicht. In einem Match habe er nämlich noch nie einen schießen dürfen. Beim Champions-League-Finale mit Bayern gegen den FC Valencia habe ihn Trainer Ottmar Hitzfeld gefragt, ob er einen Elfer treten wolle, Hargreaves sagte Ja, „dann holte ich mir eine Flasche Wasser, und als ich wieder kam, sagte Hitzfeld: Jetzt habe er schon fünf Schützen.“

So selbstsicher wäre nicht jeder 20-Jährige in der Umgebung von 30 drängenden Journalisten aufgetreten. Wie unbeeindruckt Hargreaves von seinem plötzlichen Aufstieg bleibt, ist wohl seine beeindruckendste Leistung. Ohne Respekt jagt er den Gegnern im Mittelfeld den Ball ab, egal, ob die auf einmal wie im Champions-League-Halbfinale gegen Madrid Luis Figo heißen. Ohne Angst nimmt er es mit dem Rummel auf, den der frische Ruhm mit sich bringt.

Ob er sich nicht einsam gefühlt habe am ersten Tag in einem Nationalteam, in dem er noch keinen kannte, wollte noch einer wissen. Zumindest die Gesichter der Kollegen habe er doch schon aus dem Fernsehen gekannt, sagte Hargreaves, und ihre Namen. Das mache es einfacher. „Wenn ich ihnen zurufe: ‚Ball her!‘“

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