Der alltägliche Behördenwahnsinn: Wenn Arbeitslose baden gehen
Die Bundesregierung will Bürokratie abbauen. Doch das ist nicht so einfach: die Geschichte einer arbeitslosen Frau und ihrer "Warmwasserpauschale".
Wenn in Deutschland Bürokratie abgebaut werden soll, ist immer Vorsicht geboten. Was stand nicht alles im Bericht der Hartz-Kommission vom Jahre 2002: Eine "Standardisierung der Prozesse" sollte dazu führen, dass die Anträge schneller bearbeitet und mehr "Eigenaktivität" bei den Langzeitarbeitslosen ausgelöst wird. Das mit der Eigenaktivität zumindest stimmt. "Ich musste mich selbst weiterbilden zur Expertin für Sozialrecht", sagt Susanne Keuner* sarkastisch.
Auf dem Esstisch der 55-jährigen Hartz-IV-Empfängerin in Berlin-Charlottenburg liegt ein dicker Leitzordner mit Empfangsbestätigungen, Abrechnungen, Briefen, dem ganzen Drumherum für sieben Widersprüche, die sie beim örtlichen Jobcenter gegen ihre Bescheide zum Arbeitslosengeld II eingereicht hat.
Wenn von "Bürokratieabbau" die Rede ist, verweist die Bundesregierung gerne auf die Leistungen des Nationalen Normenkontrollrats (www.normenkontrollrat.bund.de). Seit 2006 überprüft das Gremium aus unabhängigen Sachverständigen den Aufwand an Datenerhebungen in Bundesgesetzen und bedient sich dabei des sogenannten Standardkostenmodells (SKM).
Der Aufwand wird für die Wirtschaft statistisch in Personalkosten und für die Bürger in Zeitaufwand umgerechnet. Dazu schlägt der Kontrollrat Vereinfachungen vor. Ein Beispiel: Angehörige von pflegebedürftigen älteren BürgerInnen brauchen im Schnitt 32 Stunden jährlich für die Anträge auf Leistungen und Hilfsmittel. Hier könnte man laut Normenkontrollrat durch Rezepte mit längerer Gültigkeit für Entlastung sorgen.
Eine kritische internationale Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum "Bürokratieabbau für Bürger" riet allerdings, sich nicht nur um die quantitative Erfassung der Datengewinnung zu kümmern, sondern mehr die Vollzugsqualität zu überprüfen. Denn die Belastung von Behörden und Bürgern durch die Hartz-IV-Gesetze wurde vom Normenkontrollrat noch nicht überprüft.
Die zierliche Frau mit den etwas müden grauen Augen kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr Vollzeit arbeiten. Eine schwere Erkrankung in jungen Jahren mündete trotz eines Sozialpädagogikstudiums in eine gebrochene Erwerbsbiografie, in ABM-Stellen und schließlich in die Langzeitarbeitslosigkeit. Wie viele Leistungsempfänger kämpft auch Keuner, alleinstehend, um das Bürgerrecht, einfach nur korrekt behandelt zu werden von den Behörden. Keuner ist eigentlich ein Fall für die neue Bundesregierung.
Die will sich für die Bürgerrechte einsetzen und hat zudem angekündigt, Bürokratie zu verringern. Auch für Hartz-IV-Empfänger. Man werde auf "Basis der vorhandenen gesetzlichen Regelungen prüfen, die Energie- und Nebenkosten sowie gegebenenfalls die Kosten der Unterkunft zu pauschalieren" heißt es im Koalitionsvertrag von Union und FDP. Die Energiekosten interessieren auch Keuner brennend. Denn in vier ihrer Widersprüche geht es um die "Warmwasserpauschale", die das Jobcenter nach Keuners Meinung falsch angesetzt hat.
Beim Wort "Warmwasserpauschale" kriegen inzwischen auch manche Sozialrechtler hysterische Anfälle. Denn kaum ein Terminus zeigt so deutlich, welch ausufernde Bürokratie einsetzt, wenn Gesetzgebung sich nicht an der Anwendbarkeit orientiert.
Hartz-IV-Empfänger bekommen den Regelsatz von 359 Euro zum Leben plus der Kosten für eine "angemessene" Unterkunft und Heizung. Die Stromkosten für "Warmwassergewinnung" und "Kochenergie" müssen aber aus dem Regelsatz bestritten werden - und mit dieser Aufteilung fängt das Elend an. Denn welcher Anteil der Heizkosten entfällt nun auf das Warmwasser für den Abwasch und das Duschbad und muss daher aus dem Regelsatz bezahlt werden?
Bei Keuner kam das Jobcenter aufgrund von Gesamtabrechnungen und Schätzungen zu dem Schluss, das Warmwasser schlage mit 36 Euro monatlich zu Buche. Um diese Summe kürzte die Behörde ihren Wohnkostenzuschuss.
"Da müsste ich den ganzen Tag in der Wanne liegen und das heiße Wasser stundenlang laufen lassen", sagt Keuner, die diverse Einzelabrechnungen zur Berichtigung beim Jobcenter vorlegte. "So viel badet nicht mal eine vierköpfige Familie."
Anstatt die Jobcenter zu zwingen, sich mit den Badegewohnheiten von Langzeitarbeitslosen zu beschäftigen, hätte der Gesetzgeber von vornherein sagen können: "Machen wir es uns einfach: Wir gelten Heizung und Warmwasser zusammen ab und basta." Aber das hätte eine Ungerechtigkeit bedeutet gegenüber denjenigen, bei denen das Wasser nicht über die Zentralheizung, sondern über einen Elektroboiler erhitzt wird und dadurch Stromkosten verursacht. Und für Stromkosten ist nun mal der Regelsatz vorgesehen.
"Wegen diesem Gleichbehandlungsgebot kam es überhaupt zum Herausrechnen der Warmwasserkosten", erklärt Keuner, die sich inzwischen auch mit dem Grundgesetz gut auskennt.
Das Jobcenter verweigerte ihr auch die Übernahme einer Betriebskostennachzahlung, gefordert vom Vermieter. Begründung: Die Betriebskosten beträfen vor allem die Warmwasserbereitung. "Ich habe denen inzwischen sogar Kopien der Verwaltungsabrechnungen für den Wohnblock vorbeigebracht", erzählt die Langzeitarbeitslose. Niemand kann ihr unterstellen, sie übernehme keine "Eigenverantwortung" für ihr Schicksal.
In der Verwaltungsabrechnung sind die Betriebskosten für den hauseigenen Aufzug, die Entsorgung von Papier, der Winterdienst, die Stromkosten für die Mieterwaschküche bis auf Euro und Cent aufgeführt. Was eine weitere Frage aufwirft, wenn man es genau nimmt, denn Waschküchen gehören rein rechtlich aus dem Regelsatz mitfinanziert - wegen der Gleichbehandlung mit Arbeitslosen, die ihre Waschmaschine in der Wohnung stehen haben.
Werner Jann könnte bei solchen Geschichten laut aufstöhnen. Der 59-jährige Professor für Verwaltungswissenschaften an der Universität Potsdam war Mitglied der Hartz-Kommission, die ihren folgenreichen Bericht 2002 verfasste. Jetzt ist er Mitautor einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum "Bürokratieabbau für Bürger". Jann räumt ein, dass man damals in der Hartz-Kommission die bürokratischen und juristischen Folgen der Reform nicht überschaute. "Man hätte klarere Regeln einführen sollen", sagt er. Hartz IV sei zu einem Paradebeispiel dafür geworden, dass sich die Ansprüche an schnelle und unbürokratische Behandlung einerseits und "Einzelfallgerechtigkeit" andererseits schwer unter einen Hut bringen ließen.
Die Scheinlösung im Gesetz, nur vage von einer "angemessenen" Unterkunft und "angemessenen" Heizkosten zu sprechen, hat die Entscheidungen auf die Jobcenter und dutzende von Sozialgerichten abgeschoben - und natürlich auf die Leistungsempfänger selbst, die zu tausenden mit ihren Miet- und Energiekostenabrechnungen und Arbeitslosengeld-II-Bescheiden immer wieder bei den überforderten SachbearbeiterInnen auftauchen.
Jann würde eine Pauschalierung der Wohn- und Energiekosten befürworten. Dann bekäme jeder einen festen Betrag für Miete und Energiekosten. Auch die Justizministerkonferenz der Länder unter Führung der Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) wünscht sich regional differenzierte "Wohnkostenpauschalen". Dem wäre auch die neue Bundesregierung laut Koalitionsvertrag nicht abgeneigt. Selbst die langzeitarbeitslose Susanne Keuner findet Pauschalen "im Prinzip gut". Also könnte doch eigentlich jetzt was geschehen. Könnte.
"Die Frage ist doch, wie hoch sind die Pauschalen", sagt Markus Kurth, sozialpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag. Für die Unterkunftskosten der Langzeitarbeitslosen sind die Städte und Gemeinden zuständig. Und die stöhnen über leere Kassen. Bei Pauschalierungen könne es leicht zu "Unterdeckungen" kommen, warnt Kurth. Energiepreise verändern sich laufend, Betriebskostennachzahlungen kommen überraschend und manche Wohnungen sind besser wärmegedämmt, andere schlechter.
Um die Pauschalen festzulegen, schlagen nun Sozialrichter aus Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt in einem Papier die Erstellung von regionalen "grundsicherungsrechtlich relevanten Mietspiegeln" vor. "Dabei müsste bestimmt werden, welche Anforderungen an die Datenbeschaffung und die Aktualisierung der Daten gestellt werden (z. B. Führen einer Datenbank, Auswertung von Wohnungsanzeigen)."
Neue Datenbanken also! Bürokratieabbau sieht irgendwie anders aus.
Wegen der Folgeprobleme und Finanzfragen geschieht wohl erst mal nichts. Man prüfe in Sachen Pauschalierung den "Gesetzgebungsbedarf" erklärt eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums.
Susanne Keuner kann sich Passivität jedoch nicht leisten. Während Steuerzahler wohl oft gar nicht merken, wenn das Finanzamt irgendwas falsch berechnet hat, sieht das bei Hartz-IV-Empfängern anders aus. "Bei mir machen 36 Euro mehr oder weniger im Monat schon einen Unterschied", sagt Keuner. Fast so viel kostet etwa das monatliche Sozialticket für U-Bahn und Bus. Bleiben ihre Widersprüche ohne Erfolg, zieht Keuner wie zehntausende andere Hartz-IV-Empfänger vor das Sozialgericht. Dort bekommen fast die Hälfte der KlägerInnen ganz oder teilweise recht.
*Name geändert
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