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Archiv-Artikel

WO BUBENHERZEN HÖHER SCHLAGEN: DIE PHANTASMAGORIE VON DER RADIKALITÄT Der Zorn der alten Männer

Knapp überm Boulevard

ISOLDE CHARIM

Auch auf die Gefahr hin, mich hier unbeliebt zu machen: Ich ertrage den Begriff „radikal“ immer weniger. Es wabert wieder überall herum, das Radikale. Und es funktioniert immer nach derselben Logik: der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Radikalität. Eine klare Überbietungslogik ist das: Wir sind die Radikalen, die echten, wir trauen uns, im Unterschied zu euch Warmduschern. Ein richtiger Machodiskurs.

Da ist nicht nur das schwülstige Revolutionspathos des Manifests „Der kommende Aufstand“, der alle Bubenherzen, wo immer sie auch stecken mögen, höher schlagen lässt. Nein, auch einer der besten und originellsten Köpfe der letzten zwanzig Jahre bläst ins selbe Horn: Slavoj Zizek. Diese Entwicklung des Mannes, der uns Lacan zugänglich gemacht hat, der die weitreichendsten Ideologietheorie und die besten Filmanalysen vorgelegt hat, ist nicht neu. Sie ist seit seiner „leninistischen Wende“ im Jahr 2002 bekannt. Nun hat er vor Kurzem in Le Monde diplomatique einen Text veröffentlicht, den er als „Aufruf zur Radikalität“ bezeichnet. Dieser Text hält genau, was der Titel verspricht: eine lange Reihe von Dichotomien, von einfachen Entgegensetzungen.

Da gibt es die heutige Linke (das sind die anderen) im Unterschied zu einer wahren Linken (das sind er und sein Freund Alain Badiou). Das Elend der Ersteren sei es, dass sie den Wohlfahrtsstaat retten und den Kapitalismus regulieren wollen. Ein Elend sei dies, weil ihre Utopie eben keine sei. Denn eine solche wäre nur „eine radikale Veränderung des Systems“. Das ist sie also, die Radikalität. Gleich neben dem „System“, das auch so eine nicht umzubringende Phantasmagorie ist. Und da ist auch gleich die Überbietungslogik, die den anderen eine falsche Radikalität unterstellt, von der man die eigene, die wahre Radikalität so schön abheben kann.

Falsch ist die Radikalität, weil sie nicht radikal genug ist: Wohlfahrtsstaat und Finanzmarktregulierungen stellen den „liberal-demokratischen Rahmen (?) nicht infrage“. Ja, sie bewahren den demokratischen Rechtsstaat. Wahre Veränderung aber, also wirkliche, radikale Radikalität ist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Sie liegt „außerhalb der Sphäre von Recht und Gesetz“. Sie wagt es, den „ultimativen Feind“ auszumachen. Dieser ist nicht etwa der Kapitalismus oder die Ausbeutung. Nein, es ist – die Demokratie. Das ist der „Rahmen“, den es in heroischer Radikalität zu überschreiten gelte. Dazu braucht es natürlich etwas anderes als „demokratische Verfahren“. Diese können zwar schon eine positive Rolle spielen, bleiben aber mit dem Makel behaftet, „Teil des staatlichen Apparats der Bourgeoisie“ zu sein. Deshalb benötige die wahre Radikalität, der echte Radikale etwas anderes. Und das ist: Gewalt. Leider ist diese so schlecht beleumundet. Deshalb braucht es vorweg eine „Entfetischisierung“ der Gewalt, so wie es einer „notwendigen Entfetischisierung der ‚demokratischen Institutionen‘ “ bedarf.

Genug damit. Ist der Linken, der elenden, damit wirklich gedient? Braucht sie die Pose des Heroismus? Ich bekenne: Ich würde gern den Wohlfahrtsstaat retten. Und auch Marktregulierungen halte ich für erstrebenswert. Vor allem aber bevorzuge ich Demokratie gegenüber einer wie auch immer „erlösten“ Gesellschaft. Nicht zuletzt auch, weil die Radikalen, ich meine die richtigen Radikalen, nicht mehr anzubieten haben als flammende Rhetorik. Da ist die Rede vom großen Ereignis, auf welches man sich einlassen, vom Risiko, welches man wagen solle, und vom „unklaren Desaster“, in das das Ganze münden kann. Das Problem ist nicht, dass es dieser Rede an jeglicher Realität mangelt. Nein, es ist viel mehr die Frage: Will man das überhaupt? Ist das wirklich das Ziel?

Nein, die Linke braucht keine finalen Schlachten. Ebenso wenig wie die Obszönität eines antidemokratischen Diskurses und die pubertäre Mutprobe, Gewalt zu „entfetischisieren“. Auch wenn diese Pubertät der Zorn von alten Männern ist, die höchst erfolgreich mit ihrem Radikalentross durch die ganze Welt tingeln. Ich plädiere dafür, den Begriff „radikal“ einzumotten! Und jetzt gehe ich duschen. Warm.

■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien