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Der Wunschbrunnen


In unglücklichen Stunden hilft die Erinnerung an magische Begebenheiten. Olga Hohmann taucht nach Münzen 


Ich bin ein taz-Blindtext. Von Geburt an. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es

Momentaufnahme Wir sind 16 Jahre alt, es ist Nacht, wir haben Durst und kein Geld. Durst, das heißt, wir haben Durst nach Alkohol. Wir streifen durch die Stadt, wir trinken die letzten Bierdosen aus, teilen uns einen Spuckschluck nach dem anderen.

Wir wollen, was alle wollen, die gerne trinken: Mehr trinken. Wir wollen Zigaretten rauchen, wollen, dass sich unser Atem in der Luft materialisiert. Dieser Rauch, der dort in der Luft steht, das war ich. Das kam aus mir. Das habe ich selbst produziert, in Eigenproduktion hergestellter Rauch. Wir sind 16 Jahre alt, es ist Nacht, wir haben Durst, wir wollen trinken, wir wollen unseren Atem materialisieren, vermittelt durch Zigaretten, wir haben kein Geld. Wir streifen durch die Stadt, es ist Sommer. Wir kommen an einem Brunnen vorbei, wir setzen uns auf die Stufen, es ist kein Trinkwasserbrunnen, im Gegenteil, das Wasser ist abgestanden, vielleicht giftig. Wir schauen in den Brunnen hinein, wir sehen kaum bis auf den Grund, es ist Nacht und das Wasser ist trüb. Am Grund glitzert etwas, nickelfarben, bronzen. Es ist eindeutig, dass es sich um Münzen handelt. Wir steigen in den Brunnen – es ist ein Brauch, den wir vergessen haben, weil wir nicht, oder kaum noch, mit ihm aufgewachsen sind.

Knietief stehen wir im abgestandenen Wasser, bücken uns, bis all unsere Ärmel nass sind, holen Münze für Münze heraus, bis der ganze Brunnen leer ist. Es sind fast ausschließlich klitzekleine Münzen, Centstücke, es handelt sich nicht um einen prominenten Wunschbrunnen, nur um einen gewöhnlichen Großstadtbrunnen. Ich frage mich: Hilft denn das Wünschen noch, in diesen Tagen?

Und ich denke an das Stern­taler, dem der Geldregen, a golden shower, zuteil wird. „Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte, blanke Taler: Und obgleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.“

Wir haben immerhin drei Euro zweiundzwanzig herausgefischt, wir tropfen, unsere Hemdchen, T-Shirts, riechen nach Metall und fremder Pisse.

Wir gehen zum Späti und kaufen zwei Dosen vom billigsten Bier. Nach ein paar Minuten Überredungskunst hat der Spätiverkäufer Mitleid mit uns tropfenden Gestalten und schenkt uns zwei einzelne Zigaretten aus seiner privaten Schachtel. Wir stehen tropfend im Kreis, teilen uns die zwei Zigaretten, geben sie im Kreis herum, ebenso wie die Bierdosen, als wäre es ein Ritual, eine adoleszente Séance. Am nächsten Morgen wachen wir auf, wir riechen nach Kloake, wir husten leicht, denn wir sind in den brunnennassen Kleider eingeschlafen, wir fühlen uns verwunschen.

Noch immer denke ich an diese Szene, wenn ich akutes Unglück habe, viele Jahre, eineinhalb Jahrzehnte später: Als wäre ich damals, wie Obelix, in den Zaubertrank gefallen. Nur andersherum. Verwunschen vom Wunschbrunnen.

Wenn ich abends nicht einschlafen kann, stelle ich mir vor, in einen tiefschwarzen Brunnen ohne Grund zu fallen. Den Grund nicht sehen – ein erschreckendes, ein erleichterndes Gefühl.

Olga Hohmann, Performancekünstlerin, Schriftstellerin und bildende Künstlerin, veröffentlichte 2023 ihr Prosadebüt „In deinem rechten Auge wohnt der Teufel“. Zuletzt erschien, zusammen mit Chiara Marcassa, „Stressed/Desserts“, das sich mit unsichtbarer Arbeit und unsichtbaren Ar­bei­te­r:in­nen befasst.



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