: Der Wirbelwind vom Bodensee
Mit der Aktion „Vorhang auf“ gehörte Kontext zu den ersten, die KünstlerInnen in der Corona-Krise eine Bühne boten. Bereits ab März versammelte sich die Szene, in 42 Folgen über acht Wochen lang, zu einem virtuellen Festival. Mit dabei war Dorle Ferber, die Teufelsgeigerin vom Bodensee.
Von Josef-Otto Freudenreich↓
Ihre erste Post erreichte uns am 23. März diesen Jahres, eine Woche nachdem Ministerpräsident Winfried Kretschmann verlautbart hatte, alle nicht unbedingt notwendigen Sozialkontakte seien einzustellen. An erster Stelle nannte er Kultureinrichtungen jeglicher Art. Damit war auch Schluss für die klassisch ausgebildete Musikerin, die nebenbei noch Tonkünstlerin, Komponistin und Autorin von Kinderbüchern ist.
„Hallo Kontext-Bühne“, schrieb Dorle Ferber „mit lieben Grüßen aus dem Hinterland“, als Musikschaffende wäre sie gerne bei unserer Aktion dabei, weil ihr gerade alles weg breche. Öffentliche Auftritte sowieso, aber auch alles, was ihr tägliches Brot war. Unterricht an der Musikschule Pfullendorf, die Abende mit ihrem A-Capella-Laienchor, die Musik für den „Teufel mit den drei goldenen Haaren“ bei der Landesgartenschau in Überlingen, für die Kulturpreisverleihung auf Schloss Salem. Alles perdu. Jetzt räume sie eben ihr Tonstudio auf (unser späterer Besuch sollte eine gewisse Notwendigkeit erkennen lassen), als Freischaffende, die schon lange „auf der Piste“ ist, sei sie allerlei Unbill gewöhnt.
Apropos lange auf der Piste: 1988 war’s im Stuttgarter Theaterhaus, eines der letzten Konzerte von „Cochise“. Die Band, benannt nach dem legendären Apachenhäuptling, war das musikalische Symbol des Widerstands, spielte in Mutlangen, an der Startbahn West, im Bonner Hofgarten, und Dorle Ferber die wunderbare Violine. „Cochise“ verschreckte mit Titeln wie „Jetzt oder nie – Anarchie“ oder „Die Erde war nicht immer so“, und die Teufelsgeigerin sang Verse wie: „Wer immer ihr seid, ob weiß oder rot, braucht Wasser und Luft, Platz für die Kinder, ein Dach überm Kopf und Wärme im Winter.“ Der Punkt auf dem i von „Cochise“ war eine Feder.
Im Haar steckt immer noch die Feder
Eine Feder im Haar trägt die 68-Jährige immer noch, weil ja nicht alles vorbei ist, was gut war. Eigentlich hat es Dorle sogar ziemlich gut erwischt. Sie lebt in Owingen-Taisersdorf, einem 300-Seelen-Dorf im Bodenseekreis, wo die Telefonnummern noch dreistellig sind, am Hirtengarten 13 in einem schnuckeligen Holzhaus, in dem sie ein rotes Sofa so platziert hat, dass ihr die Morgensonne beim taz-/Kontext-Lesen auf den Rücken scheint. Neben sich Partner Michael Kussl, der Metallbildhauer ist, wovon die bunten Plastiken rund ums Haus Zeugnis ablegen. Wenn’s wieder einmal knapp wird mit der Kunst, schweißt er den Bauern am Ort die Pflüge wieder heil. Auch wenn die grüne Kreuze auf ihren Feldern in den Boden rammen, weil sie glauben, die Regierung wolle ihnen den Garaus machen. Blühstreifen müssen doch genügen.
Generell ist es in Taisersdorf ganz schön schön. Wahlweise sagt die Ortsvorsteherin, die im Hauptberuf Heilpraktikerin ist, ihre Gemeinde sei das Woodstock oder Worpswede des Linzgaus. Das hängt damit zusammen, dass sich dort seit vielen Jahren ein buntes Völkchen niedergelassen hat, das man in diesem konservativen Landstrich nicht erwarten würde. Begonnen hatte es vor mehr als 30 Jahren, als die Stuttgarter Baukunstgruppe „Sanfte Strukturen“ ins Hinterland des Bodensees gezogen war, und schon damals, neben freizügigem Leben, soziale und kollektive Bauweisen mit Naturmaterialien entwickelt hatte.
Zu ihrem „archaisch echsperimentellen Hauskonzert Archex“ würden heute sogar Ureinwohner kommen, berichtet Dorle Ferber, diesmal wäre es sogar das zehnjährige Jubiläum gewesen. Sie haben sich, ohne mit der Wimper zu zucken, an Tomi Simatupang, dem Jimi Hendrix von Indonesien, erfreut oder an Nachbar Jan Fride, den der ältere Mensch noch von der Deutschrock-Band „Kraan“ her kennt. Der Drummer ist auch gerne dabei, wenn Dorle Ferber die Lautenbacher Blaskapelle dirigiert, die von Klassik bis zur Tanzmusik alles spielt, gehandicapt in vielerlei Hinsicht, nur nicht in musikalischer. Eine grandiose Truppe.
Ihr nächster Termin stand schon fest, die Erstaufführung von „Tutto – des Lebens wilder Kreis“, den Text für den Sprechchor hatte sie geschrieben: „Monokulturen, Pestizide, Gülle, Nitrat – zu viel Nitrat und Gülle. Die mit sechs Beinen hört man nicht weinen, hört man nicht schreien, sie sterben einfach aus, sie sterben einfach aus.“
Endlich neue Saiten – mit dem Corona-Geld
Aus all den Plänen ist nichts geworden. Die große Depression ist deshalb nicht ausgebrochen. „Mit Kreativität und Zuversicht kommst du immer durch“, bekräftigt Dorle Ferber in ihrer Wohnstube, die mit vielen Plakaten des eigenen Schaffens geschmückt ist. Alles sehr bunt, sehr hell, sehr verspielt. „Ein Fisch fliegt über den Küchentisch“, dieses Konzert hat vor einigen Jahren sogar die Baden-Württemberg Stiftung mitfinanziert. Wenn dann noch ein paar Euro Staatsknete fürs tägliche Leben rüberwachsen, wird sie nicht so antikapitalistisch sein, sie abzulehnen, sie höchstens als Ausnahme von ihrer Regel zu betrachten, die da lautet: kein Sozialamt.
Letztendlich gehe es doch darum, mit den Menschen und für die Menschen Musik zu machen, sagt sie, mit wackelnder Bussardfeder im Haar, nicht darum, vom Staat fürs Nichtarbeiten bezahlt zu werden. Von dem Corona-Geld, verrät sie, habe sie neue Saiten für die Geige besorgen können.
Irgendwie kommen sie tatsächlich durch, und wenn der Eisenkünstler Kussl noch mehr bei den Bauern schweißen muss. Viel schwerer ist es, die Füße still zu halten, im Tonstudio neben der Wohnstube zwischen Geigen, Gitarren, Klavier und Coronamasken zu sitzen und nicht zu wissen, wann wieder Bühne ist. Da hilft so eine Aktion wie „Vorhang auf“ bei Kontext, allein der öffentlichen Wahrnehmung halber. Und weil frau nicht allein ist unter ihresgleichen.
Das habe sie doch „sehr ermutigt“, hat sie zwischendurch wissen lassen, in einer zweiten Mail, in der sie jubelt, endlich mal wieder spielen zu dürfen. „Kommt, es wird spannend!“, verspricht sie. Das war am 19. September. Mit dem „Wilde-Welten-Trio“ durfte sie auf einem Parkhausdeck in Pfullendorf auftreten, es war saukalt, und trotzdem gingen die Zuhörer mit glücklichen Gesichtern nach Hause, wie der „Südkurier“ berichtete. Dann war wieder Schluss.
In der Zwischenzeit hatte sie noch den Song „All blood is red“ aufgenommen und an die Baden-Württemberg Stiftung geschickt, die zur digitalen Meisterschaft unter den MusikantInnen aufgerufen hatte. Gewonnen hat sie nicht, aber wieder einmal etwas gesungen, was gesagt werden muss, dass das Gemeinsame zählt, nicht das Trennende der Hautfarbe. Als Kulturschaffende wolle frau doch mitmischen und aufmischen, sagt Dorle Ferber, „in unverzagter Hoffnung auf Besserung der Welt“. Wie sie das so sagt, könnte man meinen „Cochise“ lebe noch.
Unglück von Überlingen
Nur einmal rückte Taisersdorf in die Schlagzeilen, mit einem tragischen Ereignis: Am 1. Juli 2002 stürzte eine DHL-Frachtmaschine am Ortsrand ab, nachdem sie in der Luft mit einem Flugzeug der Bashkirian-Airlines zusammengestoßen war. An den Aufprall des Cockpits und den Tod der beiden Piloten erinnert ein Gedenkstein. In der Passagiermaschine kamen 69 Menschen ums Leben, darunter 49 Kinder. Das „Unglück von Überlingen“ war der folgenschwerste Flugunfall in der Bundesrepublik Deutschland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen