: Der Weltspitze auf die Pelle gerückt
Tobias Unger, eigentlich Spezialist über 200 m, gewinnt bei den deutschen Meisterschaften in Bochum erstmals auf der kurzen Sprintdistanz und fühlt sich pudelwohl in seiner Rolle als Aushängeschild der deutschen Leichtathletik
BOCHUM taz ■ Es musste dann unbedingt auch über Gefühle geredet werden im Wattenscheider Lorheidestadion, und Tobias Unger, der Sprinter von der LAZ Salamander Kornwestheim-Ludwigsburg, hatte zu diesem Thema einen nicht ganz unwesentlichen Beitrag zu leisten. Kurz zuvor hatte er die 100 Meter in 10,16 Sekunden auf den roten Tartan getrommelt, was nicht nur persönliche Bestzeit bedeutete, sondern auch den Gewinn seines ersten deutschen Meistertitels über die kurze Sprintdistanz, nun gab er preis, dass es sich tatsächlich so verhalte, wie ihm die Kollegen immer prophezeit hatten: Ein richtiger 100-m-Sprint fängt erst bei einer Zeit unter 10,2 Sekunden an – und auch Tobias Unger musste feststellen: „Das ist ein ganz anderes Laufgefühl. Das macht einfach Spaß.“
Nun scheint es dem jungen Mann aus dem Schwabenland prinzipiell nicht an Freude an der schnellen Arbeit zu mangeln, jedenfalls betont er das allenthalben. Der 100-m-Auftritt von Wattenscheid aber dürfte ihm dennoch einen kleinen Extraspaß beschert haben, schließlich sorgte der 25-Jährige bisher in erster Linie über die doppelte Distanz für Furore, auch international. Man denke da nur an die Olympischen Spiele von Athen, wo Unger im 200-m-Finale der einzige Weiße unter all den schwarzen Jungs war – und schließlich Siebter wurde. Oder an die Hallen-EM diesen März, wo er über 200 m gewann. Nun aber ist er der Weltspitze auch über die 100 m ganz schön auf die Pelle gerückt. Und obwohl es noch ein Stückchen hin ist zu all den schwarzen Muskelprotzen, bedeuten die 10,16 Sekunden für den für einen Sprinter von Weltformat erfreulich schmal wirkenden Unger doch einen kleinen Quantensprung. Zumal der hinzugewonnene Speed auch der Entwicklung auf der doppelten Distanz dient. „Ich hoffe, dass sich das alles auch auf meine 200-m-Zeit auswirkt“, sagte Unger am Samstag. Schon am folgenden Tag konnte er den Beweis dafür antreten; da standen bei den deutschen Meisterschaften die 200 m auf dem Programm (bei Redaktionsschluss noch nicht gestartet). Ungers nächste Ziele über die halbe Stadionrunde: eine Zeit von 20,20 Sekunden oder darunter (was ganz nebenbei das Brechen des deutschen Rekords von Frank Emmelmann bedeutete, der seit 20 Jahren auf 20,23 Sek. festzementiert scheint) – und bei der WM in Helsinki das neuerliche Erreichen des Finals. „Das“, findet Unger, „wäre schon klasse.“
Für die obersten Herren im deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) wäre es sogar noch ein bisschen mehr. Die deutsche Leichtathletik ist ja zuletzt in die Krise gerutscht, weil viele Altgediente wie der Diskuswerfer Lars Riedel oder die Kugelstoßerin Astrid Kumbernuss nicht mehr so können wie früher, und die jungen Talente noch lange nicht so weit sind. Einer wie Unger kommt da gerade recht, er leuchtet wie ein Solitär, weil er noch jung ist – und doch schon sehr erfolgreich. Nach so einem Athleten hat die deutsche Leichtathletik regelrecht gelechzt. Oder, wie es die FAZ kürzlich bereimte: Es bestand jede Menge „Hunger auf Unger“. Dem Spiegel wiederum ist der Schwabenpfeil „das ideale Zugpferd“ für den auf weiten Gebieten lahmenden DLV-Gaul.
Da trifft es sich gut, dass Unger diesen Hunger nur allzu gerne stillt. Er ist sich bewusst darüber, dass er derzeit das Aushängeschild seines Verbands darstellt – und er scheint bereit, diese Rolle auszufüllen. Vor allem: Der Student des Sportmanagements an der Uni Tübingen weiß, wie es geht. Interviews zum Beispiel – meistens kein Problem, auch am Samstag nach dem 100-m-Finale nahm sich Unger ausgiebigst Zeit für die Medien, obwohl er am Sonntag schon wieder ranmusste. „Das gehört doch dazu. Das ist mein Job“, sagt Unger. Außerdem mache es ihm Spaß. „Das habe ich mir ja auch verdient“, sagt er. Nur die Arbeit dürfe nicht darunter leiden. Mit Arbeit meint er: Training.
Noch scheint das nicht der Fall. Ganz offenbar hat sich Unger ein Umfeld aufgebaut, das ihn davor bewahrt, das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Wichtigster Baustein darin ist Micky Corucle, sein rumänischer Trainer. Corucle, mehr väterlicher Freund denn Schleifer, hat Unger zu dem gemacht, was er heute ist – und er achtet darauf, dass der junge Mann zwar weiterhin schnell ist wie der Wind, aber dabei doch nicht abhebt. Als kürzlich beispielsweise Sprint-Bundestrainer Uwe Hakus davon fabulierte, Unger habe das „Zeug zum Olympiasieger“, wischte Corucle das mit zwei Wörtern vom Tisch: „Blanker Unsinn!“
FRANK KETTERER