: Der Weg zur gemeinsamen Verteidigungsstrategie
Grundlage aller gemeinsamen Verteidigungsprojekte von Bonn und Paris ist der deutsch–französische Freundschaftsvertrag, den De Gaulle und Adenauer 1963 unterzeichneten. Hier wurde bereits festgehalten, worum es heute geht. Die Verteidigungsminister der beiden Länder sollen „auf dem Gebiet der Strategie und der Taktik (...) ihre Auffassungen einander annähern, um zu gemeinsamen Konzepten zu gelangen“. Freilich blieb es damals bei den Vertragsworten. Noch im Jahr der Vertragsunterzeichnung nahm die NATO unter Kennedy die Doktrin der „flexible response“ an, die die Vorneverteidigung und den Einsatz taktischer Atomwaffen im Gefecht vorsieht. Während sich die Bundesregierung dem Willen der US–Regierung sofort fügte, konnte De Gaulle die neue Doktrin nicht akzeptieren. Sie war mit den Prinzipien der „force de frappe“ nicht vereinbar und führte schließlich 1966 zum Rückzug Frankreichs aus der Befehlsstruktur der NATO. Die Zeit verging, bis Schmidt und Giscard in den siebziger Jahren den Begriff der „Achse Bonn– Paris“ prägten. Schmidt und Giscard schafften neue psychologische Voraussetzungen im deutsch–französischen Dialog der Regierungen, aber in den Verteidigungskonzepten beider Länder gab es in den siebziger Jahren keine Veränderungen. Solange sich die mächtige Linksopposition in Frankreich noch grundsätzlich gegen die „force de frappe“ wehrte, vermieden es die rechten Mehrheitsparteien und Giscard selbst, Zweifel an der Gültigkeit der gaullistischen Doktrin aufkommen zu lassen. Giscard traf deshalb seine vielleicht folgenreichste militärpolitische Entscheidung, die über die gaullistische Doktrin hinausreichte, im Geheimen: Im Dezember 1976 gab er beim „Kommissariat für Atomenergie“ (CEA) die französische Neutronenbombe in Auftrag. Erst im Juni 1980 teilte Giscard seine Entscheidung der Nation mit: „Die besondere Frage des Einsatzes (...) ist bei weitem nicht die einzige Frage, die sich in diesem Zusammenhang für die Bundesrepublik Deutschland stellt. Bei unseren Reflexionen zum Einsatz dieser Waffe werden wir der folgenden Gegebenheit Rechnung tragen: Frankreich ist von der Sicherheit seiner Nachbarstaaten direkt betroffen...“ Giscard ließ bereits damals anklingen, daß eine deutsch–französische Absprache für den Einsatz der Neutronenbombe von Notwendigkeit ist. Als Mitterrand 1981 die Macht errang, waren seine Sozialisten verteidigungspolitisch bereits diszipliniert. Die Billigung der französischen Neutronenbombenversuche durch den Vorstand der Sozialistischen Partei im Jahre 1980 markierte historisch den endgültigen Bruch mit der pazifistischen Tradition der Partei. Der allgemeine „nukleare Konsens“ der großen politischen Parteien um die französische Atomstreitmacht war geschaffen, und die militärische Grundsatzdiskussion beendet. Die französischen Ver teidigungspolitiker konnten sich nun neuen strategischen Optionen widmen. Bereits 1981 forderte der neue Verteidigungsminister Hernu einen „europäischen Sicherheitspakt“. Die strategische Debatte erreichte im Juli 1985 ihren ersten Höhepunkt: Mit einem Schlag veröffentlichten die drei großen französischen Parteien, Sozialisten (PS), gaullistische RPR und giscardistische UDF ihre neuen Strategiekonzepte zur Verteidigungspolitik. „Bei der Lektüre dieser Berichte“, schrieb kurz darauf der französische Strategieexperte Paul–Marie de la Gorce, „kann man sich fragen, ob man nicht einer Infragestellung der strategischen Prinzipien beiwohnt, die seit zwanzig Jahren in Frankreich vorwiegen. Wäre dies der Fall, dann würde es sich um ein Ereignis von größter Bedeutung handeln.“ Die Weißbücher der Parteien drehten sich um einen einzigen Punkt: die politische und militärische Rolle Frankreichs in Europa. Das deutsch–französische Verhältnis steht dabei im Mittelpunkt aller Betrachtungen. De la Gorce kam damals zu dem Schluß: „Folglich schlagen die entscheidenden politischen Parteien auf sehr bestimmte Weise deutsch–französische Konsultationen vor, die den Einsatz der nukleartechnischen französischen Waffen betreffen.“ PS, RPR und UDF stellten also bereits 1985, wenn auch unausgesprochen, die Frage nach der Stationierung dieser Waffen - und mithin der Neutronenbombe - in der Bundesrepublik.
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