■ Der Wahlkampf läuft in die heiße Phase: Alles schon gelaufen?
An diesem Wochenende begann endgültig, was man gemeinhin die heiße Phase eines Wahlkampfes nennt. Nachdem Kohl in Dortmund vor acht Tagen mit seinem Diktum von den „rotlackierten Faschisten“ den Ton in der nach oben offenen Demagogieskala vorgegeben hatte, legten nun CSU, FDP und SPD nach. Allein die Grünen verzichten auf das Spektakel eines Wahlkampfauftaktes, wohl in der richtigen Annahme, daß ihre Klientel auch ohne bunte Luftballons den Weg in die Wahlkabine finden wird. Aber wozu der ganze Aufwand, wo doch der Sieger scheinbar schon feststeht? Erleben wir in den kommenden Wochen eine gigantische Inszenierung der Veranstaltung Wahlkampf, die, einem aufheulenden leerlaufenden Motor gleich, am Ende doch nichts bewegt? Das könnte sein, und doch ist das Ergebnis damit alles andere als klar. Denn der Sieger Kohl – und das wissen seine Wahlkampfstrategen nur zu gut – könnte am 17. Oktober trotzdem als der große Verlierer dastehen. So sehr der Wahlkampf die Zeit des Konjunktivs ist, lassen sich doch eine Reihe von Indizien finden, die dafür sprechen, daß das Ergebnis der Bundestagswahl so offen ist wie in den letzten 14 Jahren nicht mehr. Das liegt vor allem an der Parteienkonstellation und der relativen Stabilität des deutschen Wahlverhaltens.
Bis Ende der 70er Jahre hatte die Bundesrepublik ein Zweiparteiensystem plus der Mehrheitsbeschafferin FDP. Das änderte sich mit den Grünen, die, entgegen allen Hoffnungen der SPD, nicht nach wenigen Jahren wieder in der Versenkung verschwanden, sondern sich zu einem stabilen Faktor der mittlerweile gesamtdeutschen Politik etabliert haben. Sämtliche Bundestagswahlen der 80er Jahre zeichneten sich dadurch aus, daß vor allem die SPD einen Teil ihrer Stimmen an die Grünen verlor, gleichzeitig mit den Grünen aber nicht koalieren wollte. Die für die SPD enttäuschenden Ergebnisse ihrer Kanzlerkandidaten Vogel und Rau basierten auf der falschen Annahme, sie könnten die Grünen ignorieren und dennoch die CDU schlagen. Die Wahlen 1990 fanden dagegen in einer Ausnahmesituation statt. Inzwischen hat sich aber nun eine neue Normalität eingependelt. Zu ihr gehört: Die Stimmen von SPD und Grünen sind unter Umständen wieder addierbar. Die strukturelle Blockade der 80er Jahre ist aufgehoben.
Damit sind wieder ganz andere Konstellationen denkbar. In den letzten drei Legislaturperioden hatten SPD und FDP zusammen keine Mehrheit, Lambsdorff, Genscher und Kinkel konnten nicht einmal mit einer erneuten Wende drohen. Das wird nach dem 16. Oktober wieder grundsätzlich anders sein. Für die Freidemokraten gibt es verschiedene Szenarien: im für sie schlimmsten Fall schaffen sie die Fünfprozenthürde nicht (und drohen dann in der Versenkung zu verschwinden). Obwohl genau dies bei den letzten Landtags- und der Europawahl passiert ist, sprechen die jüngsten Umfrageergebnisse dafür, daß sie den Einzug in den Bundestag schaffen. Die entscheidende Frage ist, ob sie mehr oder weniger als die Grünen bekommen, denn nur bei mehr als 8 Prozent hat die FDP eine reelle Chance, zusammen mit CDU/ CSU wieder die Regierung zu stellen. Bleibt sie unter dem Ergebnis der Grünen, steht die FDP vor schweren Entscheidungen: Beteiligung an einer Ampelregierung oder ganz kleine Opposition gegen eine große Koalition – für eine Partei, die immer nur davon gelebt hat, ihre Klientel als Regierungspartei zu bedienen, gerät die Oppositionsrolle leicht zur Existenzfrage.
Das Dilemma der SPD in den 80er Jahren wird nun zu dem Problem der CDU in den 90ern. Reicht es mit der FDP nicht, steht die Kohl-Truppe ohne Partner da. Zur neuen Normalität gehört aber, daß statt wie früher drei zukünftig wohl fünf Parteien im Bundestag sitzen werden. Zwar haben sich die Prognosen über die Erosion der Volksparteien nicht in dem Umfang erfüllt, wie viele noch im letzten Jahr geglaubt haben – so werden die Statt-Parteien sicher keine Rolle spielen und auch die Reps aller Voraussicht nach weit unter der Fünfprozentmarke hängenbleiben – aber als Vermächtnis der Vereinigung gibt es, zusätzlich zum westdeutschen Parteienspiegel, die PDS. Dabei ist die Annahme, die PDS würde klar ein Wählerpotential binden, welches sonst bei SPD und Grünen gelandet wäre, wohl etwas vorschnell. Die Motive der PDS-Wähler sind mit denen von Grünen oder SPD-Wählern kaum vergleichbar. Das bedeutet, niemand weiß wirklich, wo die PDS- Wähler blieben, gäbe es die Partei nicht. Kommt sie dagegen in den Bundestag, wird es entsprechend schwieriger, allein mit zwei Parteien eine Regierung zu bilden, es sei denn, in der großen Koalition. Obwohl die PDS also für keine der anderen Parteien koalitionsfähig ist, trägt sie dazu bei, eine Neuauflage der Kohl-Kinkel-Regierung zu erschweren.
Was bedeutet das nun für den Wahlkampf? Zuerst einmal, gelaufen ist noch gar nichts. Zweitens, die vermeintliche Alternative Schwarz-Gelb gegen Rot-Grün hört sich zwar ganz griffig an, wird es aber so wahrscheinlich gar nicht geben. Statt dessen wird wohl die Auseinandersetzung große Koalition oder Ampel auf uns zukommen. Für Kohl und die CDU bedeutet dies, eine Zweitstimmenkampagne für die FDP könnte ihre Position in einer großen Koalition schwächen und ist deshalb gefährlich. Darüber hinaus werden die CDU-Strategen sich im Anschluß an die Wahl vielleicht einmal fragen, ob sie nicht durch die Dämonisierung der PDS erst recht mit dazu beigetragen haben, die Partei über die Fünfprozenthürde zu bringen. SPD, Grüne und FDP werden sich, hinter verschlossenen Türen, versteht sich, langsam darauf einstellen, daß mindestens der Versuch einer Regierungsbildung auf sie zukommen könnte. Um so wichtiger ist es deshalb, klare Vorstellungen davon zu vermitteln, was man in der nächsten Legislaturperiode erreichen will.
Wenn der Wahlkampf über die Verschwendung von materiellen Ressourcen hinaus noch etwas bewegen soll, müßte das SPD-Trio nun endlich sein Thema finden. Die Psychodebatte über das „Phänomen Kohl“, die „Machtmaschine“ aus Oggersheim, dem „schwarzen Riesen“ der Weltpolitik wird nur dadurch beendet, daß Scharping, Lafontaine und Schröder Kohl dazu zwingen, über konkrete Projekte für die nächsten vier Jahre zu reden. Wo bleibt die Debatte um die Neuverteilung von Arbeit, die Diskussion um eine Steuerreform unter ökologischen Vorzeichen, wo bleiben die Eckpunkte einer ökologischen Trendwende, die Arbeitsplätze schafft, und wo diskutiert die SPD-Spitze den Zusammenhang von Kohl-Regierung und Rechtsextremismus?
Sicher ist eine Ampelkoalition mit einem hohen Risiko verbunden und die Flucht in die Elefantenhochzeit die scheinbar einfachere Lösung. Bis jetzt läßt der SPD-Wahlkampf noch jeden Weg offen. Bis „Deutschland sich auf den Wechsel freut“, muß Scharping langsam mal etwas mehr anbieten als bunte Luftballons im Westfalenstadion. Jürgen Gottschlich
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