Der Wahlabend im Fernsehen: Übertragung von Ungewissheit

ARD und ZDF rechnen unterschiedlich hoch, das Weblog der hessischen SPD beschäftigt sich mit Eisbären, der NDR mit Trachtenorchestern - das TV ist an die Grenzen des Live-Berichts gestoßen.

So sieht es am ARD-Politikertresen aus, wenn die Kamera mal nicht on ist. Bild: dpa

Um 19.14 Uhr am Sonntagabend fließen in der ARD Tränen.

Kuchengrafik- und Balkenstatistikbesoffen haben zu diesem Zeitpunkt schon sämtliche wandelnden Partei-Kittelschürzen die Wahlergebnisse in die Mikrofone geschönt und verkürzt. Norbert Schmitt, der hessische Generalsekretär der SPD, hat sich bereits für die bundespolitische Bühne empfohlen, die Wahlen 2008 mit den Wahlen von 2003 verglichen und vor diesem Hintergrund von einem "Wunder" geurigellert. Volker Bouffier, CDU-Innenminister in Hessen, hat die Zahlen da schon eher statisch betrachtet und beide Lager politisch "ziemlich gleichauf" gesehen.

Das Einzige aber, was man zu diesem Zeitpunkt schon sicher weiß, ist: Mindestens eines der Wahlforschungsinstitute von ARD und ZDF - Infratest dimap für die ARD, die Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF - hat bei den ersten Hochrechnungen für Hessen unrichtige Mehrheiten vorausgesagt. Die ARD prognostizierte eine Mehrheit für Rot-Grün, das ZDF einen Patt mit Schwarz-Gelb. Nach mehreren Hochrechnungen, die nur dazu dienen, die Ungewissheit zu festigen, tut die ARD also gegen 19 Uhr das vorübergehend genau Richtige: Die Spannungskurve der Übertragung von Ungewissheit ist im ersten kleinen Tal, und so schaltet sie wie geplant zur "Lindenstraße". Und dort wird geheult.

Offensiver verweigert sich wohl nur das Weblog der hessischen SPD der hektischen Konkurrenz um die geilsten neuen Zahlen. Die Spitzenmeldung auf der Startseite lautet: "Die Löwin für 'Flocke' " - die Meinung der Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti zur Namensgebung für einen Eisbären.

Was ansonsten geschieht am Wahlabend im deutschen Fernsehen: Die Niedersachsen-Wahl ist so langweilig wie das Image von Hannover. Im NDR geht es von 18.45 Uhr an um Trachtenorchester und eine seltene Perlmuschel. So viel zur Spannung der Wahl in Niedersachsen.

Also, Hessenwahl. n-tv hat mit der Kabarettistin Lisa Fitz eine echte Spitzenkandidatin für blitzsaubere Wahlanalysen im Studio - und die sind keinesfalls schlechter, nur unterhaltsamer als die von Focus-Chef Helmut Markwort, den das ZDF frisch aus dem Solarium eingeflogen hat. Weil es sich aber um einen ausgewogenen Sender handelt, fährt Bernd Ulrich, der stellvertretende Zeit-Chef, Markwort prompt mit der entgegengesetzten Analyse des hessischen Wahlkampfs in die Parade.

Uli Meerkamm müht sich für die ARD im besten Wie-ist-die-Stimmung-Fußballkatakombenstil redlich, die Stimmung bei der hessischen SPD live zum Emohighlight .

Um 19 Uhr eröffnet Steffen Seibert, gewohnt prägnant und darin seinem ARD-Kollegen Jörg Schönenborn vergleichbar, im ZDF eine kleine Nebenarena und stichelt leise gegen die ARD. "Eine rotgrüne Mehrheit, die ist im Moment eher unwahrscheinlich", sagt er in "heute" und fügt hinzu: also "das, was nicht hier, aber in anderen Sendern schon verkündet wurde".

Tatsächlich hatte die ARD in der ersten Hochrechnung um Punkt 18 Uhr eine Abwahl der Koch-Regierung und eine hauchdünne Sitzmehrheit für SPD und Grüne in Hessen prognostiziert, während das ZDF da eine ebenso hauchdünne Prozentmehrheit für Schwarz-Gelb errechnet hatte.

Und so ist es an dem ausgerechnet nicht ganz neutralen Wahlbeobachter Roland Koch, um 19.31 Uhr einen vollkommen richtigen Satz zu sagen: Wer am Ende regiere, sagt er da, wenn auch kaum ohne Hintergedanken, würden nicht Fernsehinterviews entscheiden, und jetzt müsse man eben mal abwarten. Und um 20 Uhr benennt Jörg Schönenborn von der ARD dann das einzige bis dahin feststehende Ergebnis aus Hessen: "Die Wahlforscher stoßen an ihre Grenzen."

Um 23.18 Uhr verkündet Jörg Schönenborn in der ARD das vorläufige amtliche Endergebnis: Die CDU liegt mit 36,8 Prozent erstmals an diesem Abend, aber diesmal wirklich, vor der SPD mit 36,7 Prozent. Das ZDF schaltet sich leicht verspätet wieder dazu.

Seine Party unter besten Voraussetzungen - was gibt es Geileres als Live-Berichterstattung - hat das Fernsehen da allerdings fast schon beendet. Es hat seine Gleichzeitigkeit mit den Ereignissen gefeiert, ist dabei an die Grenzen der Prognose gestoßen, hat aber zugleich, im Ganzen betrachtet, grandiose Wahlpartyatmo vermittelt. Der RBB zeigt um 20.15 Uhr "Wolfgang Petry - Das letzte Konzert", der WDR überträgt aus Köln: "Loss mer singe!" - Kneipenhits zum Abhotten.

Was hätte man um 20.15 Uhr also am Besten tun sollen? Nervös an den Nägeln kauen?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.