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Archiv-Artikel

Der Verräter von Kreuzberg

UMZUG IM SOMMER „Treptow – Stasihölle!“ Unser Autor verabschiedet sich wehmütig von seiner alten Heimat und überschreitet von nun an räumlich und generationell seine Grenzen

Auch die Admiralbrücke war manchmal meine Kneipe gewesen

VON DETLEF KUHLBRODT

Mein letzter Sommer in Kreuzberg ging zu Ende. Danach würde es zwar immer noch ein bisschen Sommer sein, aber ich nicht mehr in Kreuzberg. Das neue Zimmer war grenznah, aber doch auf der anderen Seite. Vor allem hatte ich 16 Jahre im gleichen Haus in unterschiedlichen Wohnungen gewohnt. Das Herz wurde schwer; das Telefon ging auch nicht mehr.

Die Kreuzberger Freunde sagten: „In deinem Alter noch umzuziehen ist doch Wahnsinn“, WGs seien nur was für Studenten, eine Kreuzberger Wohnung aufzugeben große Dummheit, Kreuzberg zu verlassen „Verrat“. Ein Altkreuzberger wollte mir die Freundschaft kündigen; ein anderer sagte knapp grinsend: „Treptow – Stasihölle!!“ Ich war zwei Monate lang umzugshysterisch, nur Laura unterstützte meinen Ort- und Lebensveränderungsentschluss: „Umziehen ist doch super. Und Treptow ist ganz toll. Da ist man schnell am Wasser und es ist entspannt da. Die Bäckereiverkäuferin packt mir immer noch ein Randstück vom Kuchen ein, die Brötchen sind mit Ei, Paprika und viel Käse belegt und es kostet nur 1,75.“

Im Vorbeigehen sah der Sommer in Kreuzberg schön aus. Es fühlte sich wie „She’s leaving home“ von den Beatles oder „Life on Mars“ von David Bowie an. Manchmal am Nachmittag war die Hitze bösartig. Aber aus Notwehr. Das Ufer am Urbanhafen war längst versteppt und immer noch zu gut besucht am frühen Abend. Zwei Flaschensammlerinnen gingen pausenlos zwischen den Leuten hin und her. In einer Gruppe wurde gelacht. Sie sagte: „Ihr sollt nicht über mich lachen. Ich bin alte Oma; 61 Jahre.“ Mir wurde wehmütig.

Manchmal hatte es am späten Nachmittag am Urbanhafen schon fast zu hochglanzmäßig ausgesehen. Die Glühbirnenreihe über dem Restaurantschiff van Loon. Der runde Mond, die Schwäne im Wasser, das reflektierende Licht. Drei Stunden zum Nichtrauchen ins Prinzenbad, vom Beckenrand Massen-Arschbomben und Doofsprünge, bis es dem Bademeister zu viel geworden ist. „Seid ihr da auch bald mal fertig!?“ Manchmal, am Nachmittag, hatten sich die Cyrruswolken kaum bewegt. Zwei Schwäne kamen ans Ufer, beschnupperten sich freundlich und reckten ihre Hälse zu einem eleganten Herzen zusammen.

Die Bergmannstraße war in diesem Sommer völlig durchgedreht. Neben den üblichen Musikanten gibt es mittlerweile auch einen Blockflötenspieler und einen Pianisten, der mit seinem Klavier diesen touristischen Hotspot rauf und runter rollt.

Einmal war der Fuß plötzlich kaputt, und morgens beim nahegelegenen Orthopäden war ich ganz begeistert gewesen. Schmerzen verbinden im Wartezimmer, wenn man am Tresen sagt: „Der Fuß ist kaputt“, und ein anderer, der auch Schmerzen hat, sonst hätte er ja nicht wie ich eine Stunde vor der Sprechstunde schon im Hausflur gewartet, grinst anerkennend. Meine bunt gemischten und beschädigten Mitbürger, die im Wartezimmer teils stehend warteten, weil es zu wenige Stühle gab (wo hätt man die auch hinstellen sollen?), waren mir urst sympathisch. Drei Stunden war ich in der Praxis und stellte mir vor, alle würden sich ein bisschen beeilen, um einem schneller das Rezept mit den Schmerztabletten aushändigen zu können, die man sich dann in der Apotheke holt.

Einmal hatte ich einen alten Hippiefreund besucht und danach für ein zwei Stunden das Gefühl, mit Insektenaugen meine Gegend zu sehen. Nicht unangenehm; nur kurz davor. Die Admiralbrücke war manchmal meine Kneipe gewesen. Ansonsten haben die „Spätis“ nun auch in Kreuzberg die Rolle der Eckkneipen übernommen.

Im inneren Ring um den deutschtürkischen Spätkauf gleich dahinten sitzen die Trinker, oft schon am Vormittag. Manchmal gibt es auch einen äußeren Ring, an dessen Rand, auf Fenstersimsen sitzend, Migrantenjugendliche Hasch anwärmen, um Joints zu drehen. Man sieht das gleich aus den Augenwinkeln; genauer hinzugucken scheint unhöflich. So passiert man erst die Hascher, dann die Trinker, geht in den Laden, wo der Chef gerade Youtube guckt, und kauft ein Maracuja-Split und „Camel ohne“ („Was?“ – „Die Kleinen da gleich hinter Ihnen“). Auf dem Verkaufstresen hatte eine gläserne Schüssel mit Glückskeksen von Lucky Strike gestanden. Die Glückskeksbotschaft, die ich auch auf dieser Spex-Party im West Germany las, ging so: „Wirklich nett, dass sie auch mal die anderen gewinnen lassen.“ Ich verlor beim Billard tatsächlich fast immer.

Ständig waren Vergangenheiten vorbeigekommen. Beim Woodstockgedenkwochenende in der Bar25 hatten wir über Solomon Burke, Leonard Cohen, Horace Andy, Lee Scratch Perry und eine Schleswig-Holsteiner Discothek namens Auenland gesprochen, während Laura Weider gerade dabei war, einen neuen Weltrekord im Dauerklavierspielen aufzustellen. 40 Stunden hatte sie gespielt, manchmal nur mit einer Hand, um mit der anderen leicht weltentrückt ins Publikum zu winken.

Dann war es wieder Mittwochnacht im Billardsalon gewesen. Ein Stoß war danebengegangen; kommentierend hatte ich was Ausgedachtes gesagt und die Echse hatte genervt geantwortet: „Du redest wie moderne Lyrik.“ Wahrscheinlich hatte er Recht.

„Das ist eine Berufskrankheit. Das sollst du nicht machen! Klingt scheiße.“

„Liegt wohl daran, dass ich mehr Worte schreibe als rede.“

Eine Viertelstunde war nun jeder Satz, den ich sagen wollte, vergiftet. Und ich vergeigte die nächsten Kugeln.

Am Morgen hatte ein kräftiger Mann Mitte sechzig vor der Bäckerei lachend zu seinem Freund gesagt: „Nächste Woche krieg ich die erste Rente, mein Kleener.“ Dann war es wieder Abend geworden. Die Fenster waren geöffnet wie immer. Eine Frau beschimpfte ihren Freund auf der Straße. Ich hörte eine alte Liveplatte von Curtis Mayfield. Er sang tatsächlich „Fate is the key“. Vielleicht hatte ich mich aber auch verhört. Aus Sentimentalität werde ich ein letztes Mal Erststimme Ströbele wählen und dann gehen.