■ Der Umgang mit dem Tod Heiner Müllers ist eine letzte Inszenierungsarbeit am nationalen Gedächtnis: Auf dem Weg zum Klassiker
Ich weiß nicht, wie Heiner Müller wohnte. Ich war nie bei ihm zu Hause. Ich werde das beizeiten nachholen.
Eine abenteuerliche Annahme? Daß Müllers Wohnung unter der Regie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zur Kultstätte verwandelt wird, daß Theater- und Kulturbeflissene, daß Touristen durch die Gemächer des verblichenen Dichters wandeln, so eine existentielle Anbindung suchen, nicht an das Werk, sondern an die Person, die dieses schuf? Daß Straßen seinen Namen tragen, daß Denkmäler zu seinen Ehren errichtet werden? Nein, so abenteuerlich ist diese Vorstellung nicht.
Mit dem Ableben begann die Kanonisierung des Dichters. Er wird zum Klassiker. Die Bedingungen hierfür hat freilich er selbst schon geschaffen. Daran, daß ihm die Position des bedeutendsten lebenden deutschen Dramatikers zukommt, ließ er selbst nie einen Zweifel. So ging er, als er dann ging, nicht als einer unter manchen, als einzelner, sondern als Vereinzelter. Dieses Herausragen aus der Zeit dürfte eine der Voraussetzungen für den Einzug in den Pantheon der nationalen Erinnerung sein, für die Aufnahme in den Bildungskanon.
An jener Phase, die den Übergang zwischen Leben und Tod zwar nicht biologisch, aber symbolisch markiert, der Zeitspanne also, die zwischen Ableben und Bestattung liegt, nahmen Tausende Anteil, deren Motive nun allerorten untersucht werden. Weil dies ein so einmaliger, somit unerklärbar scheinender Vorgang ist, werden die einfachen Erklärungen bevorzugt. Dem Spiegel-Reporter wurde etwa klar, nachdem er den Gedenkmarathon im Berliner Ensemble viele Tage lang verfolgt hatte – „die Augen tränen“, das „Gehirn, randvoll überquellend und leergepumpt“ –, daß hier hauptsächlich Ostdeutsche „das Ende einer Epoche betrauerten“.
Blind und leergepumpt, versagten offenkundig Blick und Verstand. Niemand war gekommen, um eine subtile Widerstandsgeste zu setzen, einen letzten Abschied von der DDR zu zelebrieren oder gar die Texte zu hören. Die, die da in Massen ins Foyer des BE drängten, wollten die letzte Chance nutzen zur symbolischen Anbindung an die Person, die da nicht mehr und gleichzeitig gerade noch war.
Der Zufall wollte es, daß ich, der letzte Lesetag und die nachfolgende Müller-Videonacht waren gerade vergangen, nach Weimar mußte und die Gelegenheit zu einem Rundgang durch Goethes Wohnhaus nutzte. Die Frage auch hier: Was wollen all die Leute? Daß der Dichter Wohnräume und – zugegeben: recht hübsche – Möbel besaß, ist ein ebenso banaler wie gewisser Sachverhalt. Das Faszinosum des Hauses am Frauenplan gründet in der Tatsache, daß es von der Endlichkeit dessen zeugt, der diese überwand. Ebenso wie der Spaziergang durch Goethes Gemächer schafft die Teilnahme an den Gedenkakten für Müller eine Verbindung zur Person, nicht zum Werk. Kanonisierbar ist, wer ein solches Bedürfnis nach Anbindung erweckt. Da wie dort senken die Menschen die Stimme, verharren in sakraler Stille – da ist die historische Größe gewiß, dort wird sie als ein Späteres angenommen, antizipiert, damit aber auch hergestellt.
Die Frage ist, warum gerade Müller, nach Goethe, Schiller, Brecht, als einziger Heutiger diesem Bedürfnis nach Entzeitlichung entspricht, inwiefern – neben der großen Qualität seiner Literatur – Person und Werk die Bedingungen der Kanonisierung schufen.
Sicher ist Müller, insofern liegt der Spiegel nicht ganz falsch (aber eben auch nicht ganz richtig), der Träger der Erinnerung an ein Vergangenes, die DDR – wobei die Betonung auf der allgemeinen Tatsache des Vergangenseins, nicht auf deren konkreter Ausformung, der untergangenen DDR, liegt. Diese Person ist schon von daher außerhalb ihrer Zeit angesiedelt.
Dies war sie aber schon immer. Schon zu DDR-Zeiten konnte Müller von sich sagen, er „stehe mit je einem Bein auf zwei Seiten der Mauer“, er schreibe „in einer anderen Zeit als der, in der ich lebe“. Somit verkörperte er schon in dieser Zeit der Dichotomie ein Drittes, war ein im Wortsinn „deutscher Dichter“. Dies ist nunmehr aktuell. Aus der DDR kommend und gleichzeitig diese – und mit ihr das zweite Spaltprodukt, die BRD – transzendierend, war der Müller von einst auf der Höhe des Heute. Kommen nicht die vom Spiegel ausfindig gemachten Ostdeutschen mit Müller in „Deutschland“ an?
Selbst wenn in diesem Zusammenhang die Erwähnung einer der letzten Regiearbeiten Müllers, die Bayreuther Inszenierung von „Tristan und Isolde“, schon in den Bereich der Interpretation fällt, verdeutlicht die Tatsache, daß solche Interpretationen überhaupt möglich sind, die Anbindung an große Linien deutscher Nationalgeschichte, die sich von den kleinen Nebenwegen nicht kreuzen ließ.
Kanonisierung ist nie bloß ein Akt der literarischen Rezeption, sondern ein kulturpolitischer. Und einer der wechselseitigen Anbindung von National- und Weltliteratur. Müller verkörperte, durch die bloße biographische Verkoppelung mit Brecht, das letzte Bindeglied zu diesem und nutzte diese Tatsache zu einer wohl seltenen „Selbstkanonisierung“. Die laufende Spielzeit des BE diente dieser in hervorragendem Maße: „Shakespeare/Brecht/Müller“.
Entspringt also dieses ritualisierte Abschiednehmen, diese Müller-Mania, bloß der Größe und Stilisierung der Person, oder rührt es nicht doch vielmehr aus einer spezifisch deutschen Krise? Zynisch gefragt: Wenn ein solch unerhörter Vorgang bei keinem anderen deutschen Gegenwartsautoren auch nur vorstellbar ist – warum? Weil diese, ob DDR- oder BRD- Autoren, bloß das Dazwischen der Nachkriegszeit repräsentieren? Hieße das nicht auch, daß da der Richtige zur rechten Zeit verstorben ist? Der Tote gibt Anlaß zu einer neuerlichen Sakralisierung der Kultur, in der diese in einer Nation ohne Mitte wieder ein anderes zu Politik und Gesellschaft bildet. Somit ist Müller tatsächlich auf dem Weg zum Klassiker, und alle, die zuletzt in das Berliner Ensemble und zu der gleichsam wie ein Staatsakt inszenierten Trauerfeier strömten, haben diesen Weg mit bereitet. Dann aber ist das Müller- Lesen nicht nur literarische Rezeption, sondern auch kulturpolitischer Akt. Dann ist dies, was als Blick zurück erscheint, in Wahrheit einer in die Zukunft.
Die Müller-Denkmäler, so sie errichtet werden, sind dann Träger nationaler Erinnnerung. An das, was war – und das, was sein soll. An ihnen wird, wenn nicht im Wortsinn, dann zumindest symbolisch, längst gearbeitet. Robert Misik
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