: „Der Tscheche muß sie zurücknehmen“
Bürger und Beamte arbeiten Hand in Hand fürs deutsche Asylrecht: Eine ganz normale Nachtschicht mit einer Streife des Bundesgrenzschutzes an der deutsch-tschechischen Grenze ■ Von Detlef Krell
Die Besatzung der Nachmittagsschicht steht auf dem Gang herum und wartet, daß es 22 Uhr wird. Nichts Besonderes los heute. Keine Aufgriffe. In einer der beiden Zellen schlafen zwei tschechische Zigarettenschmuggler, die grauen Armeedecken bis unter die Nasen gezogen. Dienststellenleiter Michael Schindler schließt die beiden „Schüblingsräume“ auf, sie sind leer. In der vergangenen Woche hatten seine Streifen auf einen Schlag 32 BulgarInnen aufgegriffen und hier unterbringen müssen. „Das größte Delikt seit Anfang des Jahres“, sagt der Beamte. „Aber in der Regel reichen diese Räume, wir können die Leute anständig versorgen.“ Bis sie über die Grenze „geschoben“ werden, zurück „zum Tschechen“.
Das Telefon im Wachraum schweigt. „Hier rufen die Bürger an, wenn sie etwas Verdächtiges beobachten.“ Die Grenzschutzstelle liegt in ländlicher Gegend; Ebersbach, eine Kleinstadt an der jungen Spree, etwa in der Mitte des 84 Kilometer langen Abschnittes der deutsch-tschechischen Grenze. Im Ebersbacher Ortsteil Spreedorf sammelt die „Bürgerinitiative Grenzkriminalität“ Geld und Unterschriften für einen Drahtzaun. Weder der Bundesgrenzschutz noch Sachsens Innenminister Heinz Eggert (CDU) kann das den umtriebigen Leuten ausreden. In einigen Häusern dieser Handtuchsiedlung zwischen der sächsischen und böhmischen Bahnstrecke wurde mehrfach eingebrochen und geplündert. Seit der BGS sich häufiger sehen läßt, geben die unbekannten Diebe klein bei. „Weder Einbrüche noch Fußspuren, nichts Besonderes“ haben die Grenzschützer vergangenen Monat festgestellt. Trotzdem will der Bürger seinen Zaun. Notfalls mit Sponsoren. „Spender dürfen dann ihre Werbung anbringen“, lockt die Initiative.
„Wir leben viel von den Anrufen der Bevölkerung“, lobt Schindler, „sobald hier in den Dörfern ein Fremder auftaucht, besteht erst mal der Verdacht, daß der nicht hierhergehört. Also, wenn da einer mit 'ner Hautfarbe rumläuft, dann werden die Bürger schon argwöhnisch.“ Neulich erst habe einer angerufen: Sieht aus, als ob hier Ausländer abgeholt werden sollen. Die BGS-Streife hin, fand die Leute noch im Rhododendronbusch. „Neun Afghanen, mit fünf Kindern.“ Zwei Fahrzeuge mit tschechischen Kennzeichen wurden auf der B96 gestellt. „Über unseren Ermittlungsdienst hatten wir schon erfahren, daß dort Übergabe sein sollte.“ Die Afghanen mußten in den „Schüblingsraum“, die Schlepper in die Zellen. Blick ins AZR, das Ausländerzentralregister, „dann schreiben wir einen Aufgriffbericht, legen eine Akte an“. Gegen die beiden Schlepper ermittelt die Staatsanwaltschaft. Für die Flüchtlinge gibt es zwei Möglichkeiten: „Entweder der Tscheche nimmt sie zurück oder nicht. Die Afghanen wollte er nicht. Obwohl wir bei einer Frau eine Umtauschquittung für tschechische Kronen gefunden haben. Eigentlich ein Beleg, daß der Tscheche uns diese Leute abnehmen muß.“
Dienstbeginn. Peter Spindler packt seine Thermoskanne in den Bus, setzt sich ans Steuer. Ein Mann um die 50, er kennt jeden Feldweg und jedes Haus. Manfred Knappe bedient das Nachtsichtgerät. Dienststellenchef Michael Schindler steigt als dritter zu und gibt die Richtung an: „Zum Dreiländereck!“ Der Streifenbus ist noch keine 100 Meter gefahren, da kommt über Funk: Ein grauer Mercedes mit Plauener Kennzeichen wurde auf der Landstraße nach Großschönau gesehen, Richtung Grenze. Vor zwei Stunden war das Auto in Dresden geklaut worden. Schindler funkt einer Streife: „Macht die Straße dicht! Der fährt genau auf euch zu.“ Spindler warnt: „Wenn er nicht schon vorher auf dieser Brücke abbiegt.“ Der Fahrer tritt das Pedal durch; es ist nach halb elf, die Straßen sind leer. Wo ist der Mercedes? Jedenfalls nicht mehr auf der Hauptstraße. Die Streifen suchen und fluchen, und dann haben sie ihn. Eine Gartensiedlung, 600 Meter vor der Grenze, dort steht er. Motor läuft, Tür ist zu, der Fahrer weg. „Der ist schon bei den Tschechen“, mutmaßen die Beamten. Drei BGS-Busse stehen um den geklauten Mercedes herum, ein Hundeführer kommt hinzu. „Wo brennt's denn?“ will einer am Gartenzaun wissen. „Muß ich doch glei' mal nachgucken“, sächselt er, „ni daß sich die Grähbel bei uns wieder verstecken.“ Die anderen Nachbarn sind inzwischen auch wach, alle suchen hinter Häusern und Hecken, die Bewegungsmelder blinken wie eine Lichtorgel, doch der Dieb bleibt weg.
„Den zu kriegen“, erklärt Schindler, „wäre ein Zufallsprodukt gewesen. Autodiebe sind äußerst brutal, die schrecken vor nichts zurück.“ Die Beamten fahren zu einer bekannten Adresse, nach Neugersdorf. Das „Bismarckstübel“, eine Kneipe, dahinter ein neues Einfamilienhaus. Die Zufahrt zur Garage sauber in Stein gefaßt; doch zum offenen Acker hin weicht jäh eine Autospur ab. Nicht mehr frisch, die Beamten haben den kühnen Abweichler schon vor Tagen registriert. „Da hinten geht es steil den Berg runter zur Grenze“, und diesen Weg, querfeldein „und ohne Rücksicht auf Verluste“, habe nicht erst ein Autoschmuggler erfolgreich genommen. „10.000 Mark Schaden an so einem geklauten Wagen sind denen gar nichts.“
Wieder auf Strecke. Der Funkverkehr ist verebbt, es ist bereits nach Mitternacht. Manfred Knappe späht mit dem Nachtsichtgerät ins Unterholz, in Waldwege und Siedlungen. An der jahrhundertealten sächsisch-böhmischen Grenze hat Schmuggeln oder, wie es hier heißt, Paschen, Tradition. Früher waren es meist Grenzbewohner, die hier am Fiskus vorbei wirtschafteten. Heute sprechen Zoll und Polizei von organisierter Kriminalität. Der BGS hat 1994 die „Ausreise“ von 338 geklauten Autos verhindert. Auch Menschenhändler, die Tschechinnen und Frauen aus osteuropäischen Ländern in deutsche Bordelle verschleppen, operieren hier. Das für die sächsisch-tschechische Grenze zuständige Grenzschutzamt Pirna zählte im vergangenen Jahr 12.744 Festnahmen. 7.564 Menschen sind beim illegalen Grenzübertritt gestellt worden. Ob Flüchtlinge oder Menschenhändler, Asylsuchende oder Autodiebe, in dieser Statistik sind alle gleich. 72 Menschen baten hier 1994 um Asyl.
Der Kleinbus rollt auf finsterer Landstraße von Seifhennersdorf nach Neugersdorf. Plötzlich sind die Beamten wach: Dort vorn, tatsächlich, da laufen welche. Aufs Gaspedal, ran an die Gruppe und Vollbremsung. Die Fußgänger sind so erschöpft, daß sie kaum reagieren. Bulgaren, vermuten die Grenzschützer. Drei Männer, zwei Frauen. Spindler fragt auf russisch, ob noch andere in der Nähe seien. Leibesvisitation, Funkruf, Sekunden später sind noch zwei Streifen zur Stelle. Nun können auch die Frauen durchsucht werden: „Petra, Arbeit für dich!“ Mit versteinerten, müden Blicken lassen die Ertappten alles über sich ergehen. Ein Bus nimmt die Gruppe mit zur Dienststelle. Die anderen machen sich auf „Nachsuche“, wie es bei den Grenzern heißt. „Da müssen noch mehr sein.“ Spindler gibt den „Aufgriff“ an alle Streifen durch, Schindler läßt später Ebersbach ansteuern. „Das war wieder ein reines Zufallsprodukt“, kommentiert er seinen Erfolg. „Morgen sitzen die vielleicht schon im Flieger ab Schönefeld.“
Ein Streifenwagen verkündet den Aufgriff eines jungen Mannes aus Ruanda. „Der arme Tropf“, meint Schindler trocken, „wenn es der wieder ist, den hätten wir dann zum dritten Mal innerhalb von sieben Tagen gefaßt.“ In der Dienststelle werden die BulgarInnen vernommen. Dann wird der Flüchtling aus Ruanda hereingebracht. Ein Beamter schließt ihm die Handschellen auf. Der Afrikaner steht in der Mitte des fahl erleuchteten Ganges, um ihn herum Uniformierte. Er hebt einen Moment die Hände, wie um sich zu schützen, eine hilflose Geste. Der Dienststellenleiter fragt ihn, ob er Französisch spreche. Ein BGSler will seinem Chef etwas mitteilen, „wegen dem...“, kleine Pause, „...Schwarzen“. Vier Männer schauen auf einen Bildschirm. Die Jalousien des verräucherten Büros sind vom gleichen stumpfen Gelbbraun wie die Dienstblusen der Beamten und das Gehäuse ihres altertümlichen Computers. Zwei der Bulgaren tauchen im AZR auf, der eine sei „zur Abschiebung ausgeschrieben“, der andere müsse noch eine Reststrafe absitzen. Er ist wegen Diebstahls verurteilt, die Rückzahlung von 96 Mark gegen Haftstrafe erlassen.
Verpflegt werden die Festgenommenen vom Deutschen Roten Kreuz. Maximal bis zum Abend des darauffolgenden Tages dürfen aufgegriffene Personen in dieser Dienststelle festgehalten werden, erläutert der Chef. Ist bis dahin „Zurückschiebung“ nicht möglich, müsse der Haftrichter entscheiden. „Wir sind der verlängerte Arm der Staatsanwaltschaft.“ Das Trio steigt wieder in den Kleinbus, rollt die grenznahen Straßen in Ebersbach ab. Fünf Übergänge für Wanderer und den kleinen Grenzverkehr gibt es in diesem Abschnitt. Sie sind nur tagsüber geöffnet. Vorhin waren noch einige Männer aus einem böhmischen Hostinec nach Ebersbach zurückgekehrt, dort kostet das Bier 14 Kronen, das sind 80 Pfennig. Die Grenzschützer ermahnten die Zecher, sich künftig an die Ordnung zu halten. Jetzt ist alles ruhig.
Über Funk kommt: „Drei Fahrzeuge auf Parkplatz in Neueibau.“ Drei Autos sind drei Schlepper, also hin. Doch daraus wird nichts. Eine Meldung: Geklauter Kübel unterwegs. Spindler nimmt eine Kurve, und da vorn kommt der Kübel. Genau auf den BGS zu. Vollgas, Durchsage an die Streifen, der Kübel kriegt die Kurve. Die Grenzschützer hinterher, jetzt hat der Dieb fünfzig Meter Vorsprung. Scharfe Kurve, dahinter ein Bahnübergang, eine Kreuzung. Nach links? Nach rechts? Weit und breit kein Kübel. „Spur kurzfristig verloren“, gibt der Streifenführer wütend durch. Er wird sie nicht mehr finden. „Kann sein, daß der Kübel jetzt irgendwo in einer Einfahrt wartet, bis der Berufsverkehr beginnt.“
Jedes Fahrzeug ist verdächtig um diese dritte Morgenstunde. Die Grenzer grasen die Straßen ab, entziffern die Kennzeichen aller entgegenkommenden Autos. Zittau, Löbau, Görlitz, ein abseits geparkter VW-Bus, auch Löbau, das bringt alles nichts. Da, ein Erfurter Kennzeichen. Auf einem Feldweg! Der Beifahrer hält eine Landkarte ausgebreitet. Anhalten, raus. „Guten Morgen, wo soll's denn hingehen?“ Die Erfurter machen ein Zeichen, da winken die Grenzer irritiert ab. „Man hätte wenigstens Bescheid sagen können!“ Die Verdächtigen gehören zum Ermittlungsdienst der Bundesgrenzschutz-Zentrale in Pirna, zivil und streng geheim.
Letzter Abstecher in den Wald. Das Spezialfernglas wandelt die Nacht zum Tag. Ein Fuchs schleicht durchs Unterholz, sonst bewegt sich nichts. „Um diese Zeit passiert kaum etwas“, wissen die Grenzschützer. Sie parken den Streifenbus am Rande eines Ackers, zünden sich die Morgenzigarette an. Peter Spindler schaut auf die Uhr: „Unsere Ablösung ist schon aufgestanden.“
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