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Archiv-Artikel

Der Trend geht zum Kraut

Gourmetköche haben Wildkräuter schon entdeckt. Sie wären auch preiswerte Nahrungsergänzung für Ärmere, wenn die die Pflanzen nur kennen würden. Lebendiger Biologieunterricht ist gefragt

von WALTRAUD SCHWAB

Auf der Liste des Könnens im Buch „Weltwissen der Siebenjährigen“ steht: „Einige Blattformen erkennen, wissen, was man in der Natur essen kann und was nicht.“ Erfahrungsgemäß ist das aus heutiger Sicht selbst für Erwachsene ein schier unlösbares Problem. Löwenzahn und Sauerampfer – so weit mag die Kenntnis noch reichen. Aber weiter?

Dabei geht der Trend zumindest in der Gourmetküche in eine andere Richtung. Wildkräutersalat steht in Restaurants gehobener Klasse auf dem Speisezettel. Da mögen Dinge wie Taubnessel, Vogelmiere, Franzosenkraut druntergemischt sein. Alles Pflanzen, die am Wegrand wachsen. Bei Udo Einenkel, dem Koch vom „Abendmahl“ in Kreuzberg, dekorieren zudem nicht nur Gänseblümchen, Ringelblumen und Stiefmütterchen die Speisen, er macht sich bei Gelegenheit selbst auf, um Holunderblüten oder Waldmeister an ausgewiesenen Stellen zu zupfen und damit Essig oder Öle zu kreieren.

Der Koch hat ein Wissen, das der Allgemeinheit verloren gegangen ist, wie Gisela A. Sticker von der Naturschule Wiesengrund in Berlin zu bestätigen weiß (siehe Interview). Dabei sind Wildkräuter und Wildgemüse den Kulturprodukten um ein Vielfaches an Nährwert überlegen. Aus einer Broschüre des AID, ein Informationsdienst, der dem Verbraucherschutzministerium zugeordnet ist, geht hervor, dass Löwenzahn und Co mindestens das Doppelte an Mineralien aufzuweisen haben wie Chinakohl, Kopfsalat und anderes kultiviertes Grünzeug. Sauerampfer hat das Elffache an Vitamin C im Vergleich zu Endiviensalat. Der Eiweißgehalt der Unkräuter übertrifft die kultivierten Blattpflanzen im Durchschnitt um das Dreifache.

Gisela Sticker führt die der Natur entfremdeten Stadtbewohner und -bewohnerinnen seit Jahren wieder in die Kenntnisse um Unkräuter und Wildgemüse ein und zeigt, was daraus alles gekocht werden kann. „Melde“ heißt die Pflanze, die in diesem Zusammenhang ein baldiges Comeback haben dürfte. Sie wächst überall, gehört in die Liste der lästigen Unkräuter per se und schmeckt ähnlich wie milder Spinat. Dazu noch die jungen Blätter von Spitzwegerich, der geschmacklich an Champignons erinnern soll, oder die Fette Henne, die auf Wanderungen schon mal den Durst stillen hilft. Im Grunde gibt es die Zutaten, wird von der Fahrt an den Stadtrand abgesehen, kostenlos. Genau dies ist die Schnittstelle zu einer Meldung ganz anderer Art.

Im Juli schlug Verbraucherschutzministerin Renate Künast Alarm: Jedes dritte Kind und jeder fünfte Jugendliche haben massives Übergewicht. Tendenz steigend. Ursache sind Fehlernährung und Bewegungsmangel. Mittlerweile wurde auch ein Zusammenhang zwischen Dickleibigkeit und Armut konstatiert. Daran lassen sich sowohl der soziale Wandel als auch die Änderungen der Essgewohnheiten sowie der Lebensmittelherstellung ablesen. In diesem Zusammenhang mag umgekehrt nicht unrelevant sein, dass laut manager-magazin die Gebrüder Albrecht, denen die Aldi-Kette gehört, gemeinsam die reichsten Deutschen sind.

Künast beruft sich in ihrem Appell, etwas für die dicken Kinder zu tun, auf wissenschaftliche Studien, die unter anderem von der europäischen Sektion der Weltgesundheitsorganisation WHO erstellt wurden. Daraus geht nicht nur hervor, dass Fettleibigkeit ein großes Risiko für Nachfolgekrankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes und neuesten Erkenntnissen zufolge auch Alzheimer ist, sondern darin wird auch auf die „Ausbeutung von Kindern durch die aggressive Vermarktung von Speisen und Getränken mit einem hohen Fett-, Zucker- und Salzgehalt“ verwiesen. Ernährung müsse an Schulen ganz neu vermittelt werden.

Kräuterkundige wie Sticker, aber auch Berliner Krankenkassen, die mittlerweile sogar Kräuterexkursionen im Görlitzer Park anbieten, sowie die Bauern, die Kräutergärten oder „essbare Landschaften“ in den neuen Bundesländern angelegt haben, versuchen all diese Erkenntnisse zusammenzuführen. Zwar können sie die neue Armut der Bevölkerung nicht beheben, sie können jedoch den SchülerInnen – aber auch den LehrerInnen und anderen Interessierten – ein Wissen vermitteln, das praktisch angewendet einen Aldi-Speiseplan ernährungsphysiologisch enorm aufwerten würde. Naturerfahrung, Ortskunde, Ökologie, Kochen – alles zusammen wäre erlebte Biologie. Nicht zu vergessen: Beim Suchen und Pflücken der Pflanzen käme zudem Bewegung mit ins Spiel.