: Der Traum des Schornsteinfegers
Es geht schon auch um Sex: Mit dem tastenden Spielfilm „Sehnsucht“ kommt die auf Filmfestivals beeindruckend durchgestartete „Oslo Stories“-Trilogie von Dag Johan Haugerud jetzt vollständig ins Kino

Von Barbara Schweizerhof
Als weltgewandter Mensch möchte man sich gleich schon darüber mokieren, dass ein Film, der im – norwegischen – Original „Sex“ betitelt ist, für den deutschen Verleih in „Oslos Stories: Sehnsucht“ umgetauft wird. Aber abgesehen davon, dass die Umbenennung den Kinobetreibern hierzulande sicher einige Erklärungen gegenüber schlecht informierter Kundschaft erspart, zeigt man sich mit der leicht überheblichen Reaktion auch schon ins Thema des Films verstrickt.
Denn in „Sex/Sehnsucht“ geht es genau um das: den offenen Umgang mit den Themen sexuelle Orientierung und sexuelle Identität und wie die Wahrnehmung von anderen die Einzelnen wiederum einschränkt und beeinflusst. Es geht auch darum, dass durch offenes Reden die Widersprüche und Probleme oft nicht wegzureden sind. So sehr die Figuren es in diesem Film auch probieren.
„Sex“ ist der Auftaktfilm der „Oslo-Stories“-Trilogie, mit der der norwegische Regisseur Dag Johan Haugerud sich der europäischen Kinolandschaft im letzten Jahr bekannt machte. Wären seine Filme nicht so entschieden antimartialisch, könnte man von einem regelrechten Siegeszug sprechen: „Sex“ feierte auf der Berlinale 2024 seine Premiere noch in der Nebensektion Panorama; „Liebe“ war im vergangenen September bereits im Wettbewerb von Venedig eingeladen und „Träume“ eroberte schließlich vor wenigen Monaten den Goldenen Bären auf der Berlinale. Wie um zu unterstreichen, dass die Trilogie keine inhärente Reihenfolge hat, bringt der deutsche Verleih nach „Liebe“ und „Träume“ „Sehnsucht/Sex“ nun aber als Letztes ins Kino.
„Sehnsucht“ ist der düsterste der drei Filme, glänzt aber zugleich mit dem untergründigsten Humor. Man spürt davon etwas in der fast schon ikonischen Szene, die die meisten Filmplakate schmückt: Da sitzen zwei Schornsteinfeger in ihren schwarzen Uniformen auf einem Dach und reden über Sex. Es hat etwas von einem Kinder- oder Märchenfilm, aber gleichzeitig ist es auch feinster, kleinteiliger Realismus.
Als wären sie in einer Therapiesitzung, erzählt Schornsteinfeger Avdelingsleder (Thorbjørn Harr) seinem Kollegen Feier (Jan Gunnar Røise) von einem Traum, der ihn verstörte. Er sei darin einer gottgleichen Person begegnet, die sich als David Bowie herausstellte. Das Verstörende bestand darin, dass dieser Traum-Bowie ihn, den Schornsteinfeger, mit einem gewissen Begehren behandelt und angeschaut habe, in etwa so, als sei er eine Frau. Er erzählt davon mit einem Mut zur Ehrlichkeit, die das Lachen sofort ersticken lässt. Auch weil der Erzählende selbst es sich beim Nachdenken über den originellen Traum alles andere als einfach macht. Er ist irritiert, fühlt sich aber auch sehr dazu angeregt, den ungewohnten Gefühlen, nachzuforschen.
Sein Gegenüber antwortet mit einem in gewisser Weise noch schockierenderen Geständnis. Schockierender, weil es sich nicht nur im Traum abspielte. Er habe neulich zum ersten Mal Sex mit einem Mann gehabt, berichtet Feier. Die Begegnung war beiläufig und zufällig, ein Kunde, bei dem er zur Schornsteinwartung war, habe es ihm freundlich vorgeschlagen und nachdem er zuerst abgelehnt habe, sei er doch noch darauf eingegangen.
Es sei ein wirklich einschlägiges Erlebnis gewesen, bei dem er sich und seinen Körper neu und anders gespürt habe. Dabei empfand er das Ganze als eine solche Ausnahmesituation, dass er weder an der eigenen heterosexuellen Orientierung zweifelt noch daran denkt, dass er seine Frau betrogen hat. Weshalb der treue Familienvater es ihr auch gleich erzählt hat. Aber wer könnte Revisor (Siri Forberg) verübeln, dass sie es ganz anders empfindet?
Ein Glas Bier mache ihn doch auch noch nicht zum Alkoholiker, gibt Feier zum Besten, als erneut die Frage auftaucht, ob er nicht eigentlich schwul sei. Der Vergleich passt zwar nicht ganz, aber in ihm drückt sich gerade deshalb das Tastende dieses Films gut aus. Haugerud interessiert sich als Autor und Regisseur nicht für Schubladen und Labels, sondern für Transformationen und Potenziale. Die Meisterschaft seines subtil geschriebenen Drehbuchs und seiner zurückhaltenden Inszenierung mit ihren langen, ungeschnittenen Dialogszenen zeigt sich in dem, was hinter der Fassade des gepflegten norwegischen Umgangs alles passiert. Avdelingsleder freundet sich mit seiner „weiblichen Seite“ an, wenn man so will, und findet in seinem Sohn einen überraschenden Verbündeten.
Feier dagegen sieht seine Ehe in die Krise rutschen und empfindet immer mehr Ungewissheit über sich selbst und seinen Platz in der Welt. Haugeruds „Oslos Stories“ sind keine Wohlfühlfilme, in denen Menschen nach einer Periode der Krise so einfach zur Behaglichkeit zurückkehren. Im Reichtum der dialogischen Verstrickungen, aus denen seine Filme bestehen, zeichnen sich Abhängigkeiten und gesellschaftliche Bedingtheiten ab. Wer wir sind, wen wir lieben, hat vielleicht mehr mit der Definitionsmacht von anderen zu tun, als wir wahrhaben wollen.
„Oslo Stories: Sehnsucht“. Regie: Dag Johan Haugerud. Mit Jan Gunnar Røise, Thorbjørn Harr u. a. Norwegen 2024, 125 Min.
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