piwik no script img

■ Der Touri von nebenanEmotionales Gepäck

Alle Jahre wieder setzt prompt zu Beginn der Schulferien eine wahre Völkerwanderung ein. Sie führt in Autos, per Flugzeug, mit der Bahn und auf Schiffen von Norden nach Süden und von West nach Ost. Kinder, Alte, Kranke, Wehleidende, Ausgestoßene und Zermürbte nehmen teil daran. Der Exodus hat biblische Ausmaße, ist aber von kurzer Dauer. Monate vorher beginnen die Vorbereitungen auf „die schönsten Wochen des Jahres“. Autos werden angeschafft, vorhandene auf Hochtouren gebracht, Flüge beziehungsweise Schiffspassagen reserviert und Geschenke besorgt, so daß die Koffer sich nicht schließen lassen. Denn nach einem Jahr der Trennung mit leeren Händen ankommen – das geht nicht. Die indirekte Ausfuhr beschert den Kaufhäusern und der Elektroindustrie ein zweites Weihnachtsgeschäft mitten im flauen Sommer. Ein Urlaub in der Heimat ist eine zeit- und kostenaufwendige Sache – mehr Streß als Erholung.

Allein der Weg dahin hat es in sich: überfüllte Flughäfen, endlose Warteschlangen, schleppende Gepäckausgabe, Zoll- und Paßkontrollen. Früher ging es mit starrem Blick nach vorn und dem berühmten Stein auf dem Gaspedal durch einen freundlichen, familiär vertrauten Balkan, eingereiht in die Blechlawine auf dem Autoput, um sich dann an dem aus allen Nähten platzenden türkischen Grenzübergang Kapikule als Willkommensgruß besonders gründlich durchsuchen zu lassen. Diese Zeiten sind vorbei. Heute fahren auf der Autoput serbische Panzer, und die Halbgötter in Uniform in Kapikule zählen aus Langeweile Fliegenbeine. Die Alternativroute über Rumänien hat schnell auch dem Hartgesottensten unter den Autofahrern seine Grenzen gezeigt. Ein Narr, der denkt, er habe es geschafft, wenn er sämtliche Transitvisa in der Tasche hat. Schlechte Straßen, mangelnde Tankstellen und Übernachtungsmöglichkeiten und immer wieder die Staus an den Grenzen sind weitere Prüfsteine. Drei Tage Wartezeit an der rumänisch-bulgarischen Grenze in der Hitze mit Kind und Kegel ist kein Pappenstiel. Auch die teure Möglichkeit, sich mit dem Schiff von Italien aus übersetzen zu lassen, hat wegen mangelnder Kapazitäten und schlechter Organisation ihre Tücken. Griechische Reeder haben zu diesem Zweck zum Ausschlachten freigegebene Schiffe wieder in Betrieb genommen, eins davon brannte kürzlich auf offener See aus.

Wer die beschwerliche Hinreise hinter sich bringt, darf lange nicht aufatmen. Nicht, daß dieser Reisende Angst vor PKK- Anschlägen hätte! Er ist sich bewußt, daß Bomben auch in vielen westlichen Ländern hochgehen und Istanbul eine niedrigere Kriminalitätsrate aufweist als die meisten europäischen Metropolen. Seine Expedition gilt aber weder der Sonne und dem Strand noch den Naturschönheiten des Landes. In diesem Sommer kann er sie fast allein für sich haben, wenn die so empfindlichen deutschen Touristen sich von Branchenriesen zu besser abgeschotteten Ferienkomplexen führen lassen.

Auch mit den steigenden Zahlen der Israelis, die die Spielcasinos in Antalya füllen, und den sonnentreuen Briten, bei denen es auf eine Bombe mehr oder weniger nicht ankommt, bleiben genug Betten im Supersonderangebot für den neudeutschen Touristen, der seine alltürkische Heimat heimsucht. Sein Interesse gilt allein den Leuten, sprich: der „Familie“, und die umfaßt mehr als nur Vater und Mutter. Besuche, Gegenbesuche, Einladungen und Festgelage sind an der Tagesordnung – bis zur Erschöpfung. Verwandte, Bekannte und Nachbarn kommen und gehen. Nach einem einsamen Winter ist das Balsam für die Seele, aber für jemanden wie mich, der es lernen mußte, mit ganz wenig Umgang auszukommen und Ruhe und Abgeschiedenheit zu schätzen, kann der Besucherverkehr leicht in Qual ausarten. Jedes Jahr, wenn ich nach zwei, drei Wochen meine ungelesenen Bücher wieder in den Koffer einpacke, nehme ich mir vor, im nächsten Sommer nach Wales oder nach Finnland zu fahren. Und jedes Jahr, spätestens bei Jahreswechsel, packt mich die Sehnsucht nach den Verwandten, Bekannten und Nachbarn und Nachbarsnachbarn. Der deutsche Winter ist lang.

Abgezählte Tage vergehen schnell. Kaum ist der letzte Willkommensgruß abgeklungen, ist es an der Zeit, den ersten Abschiedsbesuch zu erstatten. Wieder ist man zu nichts gekommen, zu Erholung am allerwenigsten. Wieder sind die Koffer prall gefüllt – mit Gegengeschenken.

Vor etlichen Jahren habe ich die Geschichte von Selim geschrieben, der nach seinem Urlaub in der Türkei mit solchen prallgefüllten Koffern an der deutschen Grenze ankommt. Die Unruhe, die er auf der Fahrt gespürt hat und seine irrationale Angst vor den Kontrollen erweisen sich als begründet: Er muß aussteigen und wird mit seinem Gepäck auf eine Bühne geführt. Dort muß er vor einem jubelnden Publikum und den laufenden Fernsehkameras seine Mitbringsel auspacken. Meerwasser kommt da heraus, Thymiangeruch aus den Bergen, Tränen seiner zurückgebliebenen Frau, der geliebte Feigenbaum aus dem Garten, die Erinnerung an die letzte Nacht und der schwere Stein des Zweifels, der ihn auf seinen Reisen zwischen den Welten begleitet – lauter emotionales Gepäck, das er auf dem Buckel trägt. Wer wüßte nicht, daß das am schwersten wiegt!

Diese jährlichen Besuche haben auch ihr Gutes. Sie zeigen, wie gut es einem doch geht. Was für ein Glück, daß man nicht mit dieser hohen Inflationsrate, mit der Jahr für Jahr abnehmenden Kaufkraft des Geldes und einem sinkenden Reallohn, mit gesellschaftlichen Unruhen und behördlicher Willkür, mit dem Chaos und der Unordnung, mit nervenaufreibenden Alltagssorgen und einer unsicheren Zukunft zu kämpfen hat. Für immer in die Türkei zurück? Nie und nimmer! Für immer in Deutschland leben? Niemals! Da, zwischen Deutschland und der Türkei, genau an der Grenze beider Länder, gibt es ein Land: das Niemalsland. Dort wohnen wir – zusammen mit Kapitän Hook, Tinker Bell und Peter Pan. Besucht uns mal! Kemal Kurt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen