■ Der Tarifabschluß bei Volkswagen: Sicherheit gegen Flexibilität
Nach Opel nun also auch VW: Die „atmende Fabrik“ ist in aller Munde. Die flexible, kontinuierliche und vor allem zugschlagfreie Anpassung der Arbeitskraft an die schwankende Auftragslage ist eine der Standardforderungen der Unternehmer in der Standortdebatte. Sie ist bei Opel und VW nun durchgesetzt und dürfte somit auch im Rest der Republik bald Einzug halten. Das VW-Management und die Arbeitgeber insgesamt können sich über den VW-Abschluß freuen. Dennoch gibt es auch für die Beschäftigten keinen Grund zur Enttäuschung. Respektable Erhöhung der Entgelte, Verlängerung der Beschäftigungssicherung, Übernahmegarantie für alle Auszubildenden sind angesichts kommender Rationalisierungswellen mehr wert als der eine oder andere Prozentpunkt beim Geld. Allerdings: Faktisch erhöht sich die Arbeitszeit bei VW durch den Wegfall von bezahlten Erholpausen um 1,2 Stunden. Der Samstag wird zwar nicht zum Regelarbeitstag, aber das lange Wochenende ist doch erheblich angekratzt. Und die Mehrarbeit wird für das Unternehmen billiger, also attraktiver gemacht. So dürfte die „Volkswagenwoche“ für die Beschäftigten und ihre Angehörigen in Zukunft insgesamt unkalkulierbarer werden als zuvor.
Arbeitsplatzsicherheit gegen mehr Flexibilität – dem VW-Abschluß liegt der Ausgleich zwischen diesen unterschiedlichen Interessen zugrunde. Der Abschluß signalisiert eine neue Ära: Die Unternehmen verzichten auf provozierende Forderungen nach Lohnsenkungen und setzen auf produktivitätssteigernde Regelungen. Und die Gewerkschaften geben ihre Blockadepolitik auf, um die Flexibilität im Interesse der Beschäftigten zu gestalten. Grundlage dazu sind die insgesamt kürzeren Arbeitszeiten: Bei durchschnittlich 28,8 Wochenstunden wie bei VW sind die Spielräume der Beschäftigten für flexible Arbeitszeiten größer als früher bei 40 Wochenstunden. Entscheidend für die soziale Qualität der Arbeitswelt ist dabei, ob die individuellen und gemeinschaftlichen Arbeitszeitinteressen der Beschäftigten durchgesetzt werden können. Werden sie zum Spielball unternehmerischer Produktionsplanung, oder können sie so weit wie möglich selbst über ihre Arbeitszeiten verfügen, auch wenn dies aktuellen Interessen ihres Arbeitsgebers widerspricht? Von dieser „Zeitsouveränität“ ist man bei VW noch weit entfernt. Aber sie enthält über die Beschäftigungssicherung hinaus die Vision eines besseren, freieren Lebens. Martin Kempe
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