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■ Der Streik der Lkw-Fahrer in Frankreich zeigte, was sozialer Konflikt im Markteuropa sein kann: Der Kampf aller gegen alleLiberale fordern den starken Staat

Es war der Streik, der längst fällig war. Und es wäre gut gewesen, wenn er noch ein paar Tage länger gedauert hätte, ein paar Schritte näher hin zum Chaos. Denn dann hätten wohl einige unter den Markteuropäern, die in der vergangenen Woche quer durch alle Schichten und Interessen die „gesetzesbrüchigen“ französischen Fernlastfahrer verurteilten, begreifen können, was dieses Lehrstück mitzuteilen hatte.

Vilvoorde war zu früh und fälschlicherweise als Symbolname für den ersten europaweiten Sozialkonflikt ausgerufen worden. Die Schließung der belgischen Renault-Fabrik, die ein paar Solidaritätsstreiks französischer und spanischer Kollegen nach sich zog, sollte die schon verloren geglaubte Solidaritätsfähigkeit der Arbeitnehmer in Europa erneut beweisen. Zu früh gehofft. Was sozialer Konflikt in Markteuropa sein kann, und womit er einstweilen nur mühsam überdeckt wird, das ließ erst der unordentliche Streik der französischen camionneurs erahnen. Indem sich die Mehrheit der europäischen Arbeitnehmer zusammen mit den Regierungen und den Unternehmen über die Gesetzlosigkeit auf den französischen Straßen empörte, kam zum ersten Mal der wahre Charakter der Marktordnung heraus: Der Kampf aller gegen alle. Und die Bereitschaft, sozialsolidarische ebenso wie marktliberale Überzeugungen zu vergessen, wenn das eigene Interesse in Gefahr kommt.

Erste Lektion: Das liberale Prinzip und zugleich die bewährte goldene Regel des rheinischen Kapitalismus, daß sich der Staat von Lohnkonflikten fernzuhalten habe, gilt wenig, wenn internationalisierte Marktinteressen bedroht sind. Die spanische und die britische Regierung haben zusammen mit der Brüsseler Kommission Frankreich barsch zur Verletzung dieses Grundsatzes aufgefordert. Paris wurde praktisch zu Maßnahmen eines übergesetzlichen Notstands gezwungen. So beendete die Regierung Jospin den Konflikt denn auch per Erlaß, der Gesetzeskraft hat.

Der Staat, von der Brüsseler Marktaufsicht ständig zur Abmagerung aufgefordert, vor allem durch Deregulierung, soll auf einmal Muskelkraft vorweisen, notfalls mit polizeilichen Mitteln. Schließlich lautet das Grundgesetz der Gemeinschaft seit der einheitlichen Akte von 1985/86: Wo Staat war, soll soviel wie möglich Markt werden. In diesem Fall soll ein Staat wieder mehr Staatlichkeit und Gewaltmonopol mobilisieren, um den freien Durchzug von Gütern zu garantieren. Die Briten waren in eigener Sache vor kurzem viel brutaler: Angesichts der BSE- Seuche aufgefordert, die Gesundheit der Konsumenten durch Intervention zu schützen, verteidigten sie stur die Interessen ihrer Viehzüchter.

Die Regierungen wissen, was sie zu fürchten haben: Dieser Streik geht an den Zentralnerv des Produktionssystems der europäischen Schlüsselindustrie. Die Wut der spanischen Orangenpflanzer und ihrer Transporteure auf den Fernfahrerstreik ist eine Harmlosigkeit gegenüber dem Druck, den alle europäischen Automobilbauer auf die Regierungen ausüben, ausüben müssen. Das Transportmittel Automobil just in time herzustellen verlangt die Herbeischaffung seiner Bestandteile in kürzester Frist. Dies erst macht ein outsourcing möglich, vor allem erspart es aufwendige Lagerhaltung und Zehntausende von Arbeitskräften. „Just in time“-Produktion läßt sich nur beschränkt über die Schiene bewältigen, sie braucht viel Straße und Fernlaster.

Und sie sorgt auch dafür, daß die Preise für Dieselkraftstoff niedrig bleiben. Als die französische Umweltministerin Dominique Voynet kürzlich eine kräftige Erhöhung der Dieselpreise ankündigte, um die Emissionen zu verringern, standen neben den Bauern die Transportunternehmer und die Lkw-Fahrer auf. Ministerpräsident Jospin erkannte sogleich, wen er gegen sich hatte, und pfiff die Ministerin zurück. Seitdem wird über den Dieselpreis nicht mehr gesprochen, über preisregulierte Umweltpolitik sehr viel leiser. Wäre die Regierung damals nicht zurückgewichen, wäre es schon vor drei Monaten zum Streik mit den gleichen Mitteln gekommen – freilich direkt gegen den Staat, teilweise auch gegen die Gewerkschaften. Und das hätte dann auch, im Gegensatz zur letzten Woche, den Beifall der Automobilbauer gefunden.

Die dritte Lektion: Die europäischen Gewerkschaften kniffen, als die Regierung das Gesetz der Staatsferne brach und den camionneurs an den Kragen ging. Gerade mal die deutsche ÖTV schickte eine Unterstützungsadresse, freilich nur an die CFDT, die neuerdings den Regierungen, der neuen linken ebenso wie der vorangegangenen rechten, bei der Modernisierung der Institutionen an die Hand geht. Nicht gegrüßt wurde die Force Ouvrière, vor zehn Jahren noch der Lieblingspartner der Deutschen, diesmal leider allzu radikal und im Streit mit der CFDT, die erfolgreich den Arbeitskampf zu beendigen half. Und erst recht nicht beachtet wurde die CGT, noch immer eine kommunismusverdächtige Bäh-Gewerkschaft. Die europäischen Gewerkschaftsbünde blieben gänzlich stumm. Wieder einmal erwies sich gewerkschaftliche Solidarität als diskriminierend – und impotent.

Die vierte Lektion: Es war der sonst zu eigenen Schwächung ermahnte Staat, der in diesem Konflikt eine Sozialpartnerschaft erst fabrizieren mußte, um Frieden herbeizuführen. Denn sind schon die schwach organisierten und in rivalisierenden Bünden zersplitterten Fahrer eine unberechenbare Front, so erst recht die Transportunternehmer. Sie können die unterschiedlichen Interessen nicht unter einen Verbandshut bringen – und stellen damit das dar, was die Frankfurter Allgemeine den deutschen Arbeitgebern jede Woche ans Herz legt: Verlaßt eure Verbände oder löst sie gar auf, um einheitliche Tarifverträge zu verhindern und die wirtschaftsfeindliche Sozialpartnerschaft zu sprengen. Hier mußte Partnerschaft, weil sie unternehmerischen Gesamtinteressen vonnöten war, vom Staat erzwungen werden.

Alain Madelin, Frankreichs Ultraliberaler, hat in der letzten Woche seinem antiliberalen Instinkt freien Lauf gelassen, indem er feststellte: Dies ist kein Streik, dies ist eine Insurrektion. Ein Aufstand also, und einige Leitartikler fühlten sich denn auch an die jacqueries erinnert, an die blindwütigen Bauernrevolten der frühen Neuzeit. Doch es war ein höchst moderner Streik: Die Fahrer kämpften flexibel, anarchisch und lustvoll – wie es einer internationalisierten Dienstleistungswirtschaft angemessen ist. Claus Koch

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