Der "Stern" wird 60: Nicht schlecht, nur schlecht gemacht
Politisches Magazin oder bunte Illustrierte? Der "Stern" wird 60 Jahre alt. Aber was es eigentlich sein will, weiß das Magazin nach all den Jahren selbst nicht mehr so genau.
Und die Stern-Redaktion bemüht sich doch um ambitionierte Titelseitenbilder. Das erfährt man am Kiosk selten, konnte es aber kürzlich im NDR-Magazin "Zapp" sehen. Beinahe wäre das Heft vor zwei Wochen mit einer Fotocollage zum Thema "Die Gesichter Chinas" vorne drauf erschienen. Erst in letzter Minute fiel die Entscheidung für Carla Bruni, die dann zur Nannen-Preis-verdächtigen Unterzeile "Sarkozys schärfste Waffe" zum Kauf einlud.
Der Verkauf am Kiosk, für den Stern weiter der wichtigste Absatzweg, ist eine komplexe Wissenschaft. Einzelne Ausgaben werden weiterhin mehr als eine Million Mal verbreitet - zum Beispiel die mit dem so kunst- wie geschmacklosen "Feuchtgebiete"-Cover. Da steckte der gleichnamige Charlotte-Roche-Bestseller im transparenten Slip einer ansonsten unbekleideten jungen Frau, deren Gesicht netterweise weggelassen wurde.
Im Durchschnitt allerdings hat der Stern Anfang dieses Jahres die magische Grenze der Millionenauflage, über der er sich stets bewegte, nach unten durchbrochen.
Andererseits herrscht kein Mangel an Statistiken, und Europas größter Zeitschriftenverlag Gruner+Jahr (G+J) weiß damit umzugehen. Nach der aktuellen Media-Analyse reklamiert der Stern eine "Gesamtreichweite von 11,5 Prozent in der Bevölkerung ab 14 Jahren". Dank fast siebeneinhalb Millionen Lesern sei man "Reichweitenführer im Segment der aktuellen Wochenmagazine", formuliert Verlagsgeschäftsführer Ove Saffe, der G+J nun verlässt und zum Spiegel wechselt. Der Spiegel ist klar auflagenstärker, liegt beim Bruttowerbeumsatz - noch eine Statistik, nun von Nielsen Media Research für 2007 errechnet - aber wiederum hinter dem "Stern" (198 Millionen Euro). Unter den Zeitschriften, die bei insgesamt laufend sinkender Auflage Wachstum anpeilen müssen, herrscht harter Wettbewerb.
Was das China-Cover betrifft, hat der Stern nichts grundsätzlich versäumt. Einen China-Titel hatte er schon im April: "2500 Jahre Kaiser, Krieger, Konkubinen" - nicht zu verwechseln mit "Kicken, Kiffen, Käse" ("Holland, unser putziger Nachbar", im Juni). Das bleibt das publizistische Problem. Welcher Leser, zumal aus den sogenannten attraktiven Zielgruppen, möchte sich schon mit Covern sehen lassen wie "Der große Zoo-Test", "Haare - Was sie über uns verraten" und "Männer um die 50 … warum das Beste noch vor ihnen liegt". Die sechsteilige Reihe "Leben ab 40" ("Sex/Gutes Aussehen/Hormone") startet in Kürze. Der Stern selbst wird bereits 60.
Seine erste Ausgabe, mit Hildegard Knef auf dem Titel, erschien am 1. August 1948. Dieser Geburtstag ist bereits sein zweites großes Jubiläum im laufenden Jahr. Im April wurde des 25. Jahrestags der sogenannten Hitler-Tagebücher gedacht. Es scheint, als überlagere die unterhaltsame, verfilmte und gern im Fernsehen wiederholte Posse ältere Fragen wie die, ob seinerzeit Henri Nannens Nazizeit-Vergangenheit ausreichend diskutiert wurde, und die, dass es anno 1938/39 schon eine durchaus vergleichbare deutsche Illustrierte namens Stern gegeben hat. Auch die politische Bedeutung, die das Nachkriegsblatt besaß, als es Bundeskanzler Willy Brandt zur Seite stand und mit der von Alice Schwarzer ersonnenen "Wir haben abgetrieben!"-Aktion den Paragrafen 218 auf die Agenda setzte, ist als schöne Leistung aus ziemlich tiefer Vergangenheit im zeitgeschichtlichen Bewusstsein verankert. Es ist ähnlich historisch wie die Frage, ob der Hitler-Tagebuch-Knacks, der damals durch den Stern ging, dazu führte, dass aus dem Magazin mit politischem Anspruch eine Illustrierte wurde. Vielleicht wäre es ohne den "GAU der deutschen Pressegeschichte" (Stern, 2008) anders gekommen, vielleicht hätte die rasante Medienentwicklung seit damals, als es weder Internet noch deutsches Privatfernsehen gab, dem Blatt ohnehin ähnlich mitgespielt wie etwa der längst eingestellten Quick.
Fest steht, dass im Hause Stern dem Skandal von 1983 mehr als ein Jahrzehnt der Aufregung gefolgt ist. War Gründer Henri Nannen Chefredakteur von Anbeginn bis 1980, folgten bis 1999 zwölf Chefs in wechselnden Konstellationen. Einige waren sehr kurz tätig, einige sind immer noch sehr bekannt, Peter Scholl-Latour, Heiner Bremer, Michael Jürgs, Herbert Riehl-Heyse, Werner Funk.
Das ist im Rückblick nicht unpraktisch, denn die Aura des journalistischen Renommees nutzt der Stern clever. So wurde der von Nannen gegründete Egon-Erwin-Kisch-Preis 2005 in den neu geschaffenen Nannen-Preis aufgenommen, den jährlich unter großem Brimborium eine Jury aus Journalisten renommierter Verlage, die ebenfalls Preise vergeben, an renommierte Journalisten vergibt. So erhalten Stern-Reporter oftmals renommierte Preise, und die Öffentlichkeit wird daran erinnert, dass im Stern oftmals lesenswerte Artikel stehen. Auch wenn sich das dem aktuellen Cover wieder nicht ansehen lässt.
Ruhe in den Stern brachte - indirekt - Chefredakteur Michael Maier, den Gruner+Jahr im Jahr 1999 von der Berliner Zeitung nach Hamburg berief. Immer noch gern erzählt man sich bei G+J die Geschichte, wie Maier eines Tages dem Vorstandschef Gerd Schulte-Hillen mitteilte, man müsse sich auch vom geschäftsführenden Redakteur Thomas Osterkorn trennen. "Das geht an die Substanz, das machen wir nicht", soll Schulte-Hillen entschieden haben und trennte sich lieber von Maier. Osterkorn ist seitdem Stern-Chefredakteur, gemeinsam mit dem vorherigen Hörzu-Chef Andreas Petzold. Diese Doppelspitze unterscheidet sich klar von den für journalistische Ambitionen wie cholerisches Temperament bekannten Vorgängern. Seit neun Jahren managt sie besonnen und nach außen aufregungsfrei den schleichenden Auflagenverlust, unter dem die ganze Zeitschriftenbranche seit Jahren leidet. Sie bildete auch die Blaupause für die neue Doppelspitze beim Spiegel.
An den G+J-Strategien namens "Life enriching media" und "Expand your Brand" ist das Heft mit bunten Ablegern wie stern Gesund Leben und der Zeitschrift View beteiligt, die als ambitioniertes Fotoheft begann und sich inzwischen mit Titelstars wie Carla Bruni ("Die intimen Geständnisse von Frankreichs First Lady") im kannibalisierenden Geschäft am Kiosk durchschlagen muss.
In München erscheint die einzige wirklich erfolgreiche Zeitschriftenneugründung der letzten Zeit, Neon, als "das junge Magazin vom Stern". Zwar weiß niemand genau, ob die Leser je fürs ältere Hauptheft gewonnen werden können, aber zumindest staunen alle Verlage des Landes. Und in Berlin verkörpert der stellvertretende Chefredakteur Hans-Ulrich Jörges bei insgesamt nachlassendem Aufregungsfaktor, aber stets bebend vor Verve, den politischen Anspruch. "Barack Obamas charismatische Erscheinung offenbart das bedrohlichste Defizit der deutschen Politik: Führung", schrieb er im Heft der Vorwoche. Brauchen wir wieder Führer? Darüber könnte man sich zumindest semantisch echauffieren. So richtig wichtig aber ist es nicht, es hat niemanden erregt.
Ansonsten im Heft, das (wie alle) Obama auf dem Cover hatte: ein schön kontroverses Interview mit "Warum tötest Du, Zaid?"-Autor Jürgen Todenhöfer, "Die besten Schnäppchen aus aller Welt" und was man beim Ergattern im Internet beachten muss, wie eine Argentinierin aus den Slums zum Topmodel aufstieg, wie ein britischer Arbeitsloser als Opernsänger eine TV-Show gewann und jetzt in einem "tief bewegenden Werbespot" der Telekom zu sehen ist.
Und immer, bevor donnerstags ein neuer Stern in den Handel kommt, geht seit 1990 die wöchentliche Fernsehshow "stern tv" mit Günther Jauch bei RTL auf Sendung, deren leichte Themencocktails ("Hund oder Herrchen - wer hat zu Hause die Hosen an?", "Schildkröte mit Depressionen - Haustier-Flüsterer und ihre verrückten Heilmethoden" ) immer noch einen Tick unangenehmer aufstoßen als selbst schwache Stern-Hefte. Wäre da nicht das Comeback des Prinzips "Wundertüte".
Als solche hatte Gründer Nannen den Stern einst positioniert. Seine Zielgruppe namens "Lieschen Müller" und sein Storyprinzip des "Küchenzurufs" ("Stell dir vor, was passiert ist …", wird dem Lieschen zugerufen) waren, je moderner die Medien wurden, als Inbegriff der Gestrigkeit verschrien. Wundertüten schienen obsolet in der Ära der Digitalisierung, die kleinere Zielgruppen mit immer besser maßgeschneiderten Medien versorgen sollte.
Seit allerdings allen Verlagen angesichts der Zukunftsprognosen für Gedrucktes schwummrig wird und sie mit aller Kraft aufs Internet setzen, wird das Konzept rehabilitiert.
Christoph Keese, zuletzt Chefredakteur bei welt.de, bekannte sich explizit zur Wundertüte. stern.de-Chefredakteur Frank Thomsen spricht vom Online-Stern als "Musikdampfer". Thomsen hat eine im Medienbusiness eigentlich gar nicht mehr vorstellbare Karriere gemacht und sich vom schlichten Redakteur mit Spezialthema Medien zum Wirtschaftsressort- und Onlinechef hochgedient. "In den letzten 10 Jahren ist der Stern niemals so schlecht gewesen, wie er manchmal gemacht wird, insbesondere in den Medien, von Journalisten", sagt er. Im Internet zählen die prallvollen Web-Auftritte von Stern und Welt zu den Print-Ablegern, die vorn dabei sind.
Wenn also "zarte Frauen tief im Dreck stecken" (stern.de-Fotostrecke zur "Wattolümpiade"), wenn die Textzeile "Schauspielerin Bai Ling bückt sich" zur Fotostrecke "Frei von Schamgefühl" mit sage und schreibe 74 Rote-Teppich-Fotos mehr oder minder bekannter Stars führt, wenn zwischen Meldungen über Lufthansa-Streik und Bundesliga Service à la "Büro-Knigge: Bitte nicht halbnackt am Schreibtisch!" grüßt, wenn nach einigem Scrollen oder Klicken wirklich für jeden etwas zu finden ist und wenn der Lidl-Überwachungs-Skandal (im März die bisher einzige wirklich harte Coverstory des Stern 2008) aus der Onlineredaktion ins Heft gelangt - dann ist das nicht bloß ganz normales Gegenwarts-Internet.
Sondern auch eine digitale Wundertüte, die Henri Nannen wohl gefallen würde.
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