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■ Beim Krieg der Russen gegen Tschetschenien drückt der Westen beide Augen zu. Dabei ist Rußland im UnrechtDer Separatist heißt Boris Jelzin

Es ist schwierig, in Rußland oder anderswo jemanden zu finden, der den Krieg in Tschetschenien offen unterstützt. Wenn man unsere führenden russischen Politiker hört, dann scheint sie nichts mehr zu beschäftigen als der Frieden. Und die westlichen Diplomaten zeigen sich darüber beunruhigt, daß die russische Armee tschetschenische Dörfer zerstört und Zivilisten tötet. Sogar der Enthusiasmus der Militärs ist längst verflogen.

Doch alle Welt scheint sich mit diesem Krieg als Tatsache abzufinden. Und niemandem ist bis jetzt ein anderes Mittel eingefallen, als mit militärischer Gewalt den Widerstand eines Volkes zu brechen, das für seine Unabhängigkeit kämpft.

Gewiß verurteilen die politischen Eliten Rußlands und des Westens die Grausamkeiten, die die russische Armee in Tschetschenien anrichtet. Einigkeit hingegen herrscht in der zentralen Frage, ob Tschetschenien als integrierter Bestandteil der Russischen Föderation zu betrachten ist. Weil dies rundum bejaht wird, hat der Kreml das unveräußerliche Recht, sein Territorium gegen die Separatisten zu verteidigen und mit dieser Operation die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen. Und daher hat auch der Westen die Pflicht, im Namen der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates zu schweigen. Es gilt zu untersuchen, ob diese Auffassung im Einklang mit den politischen, rechtlichen und historischen Fakten steht.

Juristisch war Tschetschenien nie Bestandteil der Russischen Föderation, und das ist es bis heute nicht. Tschetschenien war, bis 1991, dem Statut nach eine autonome Republik innerhalb einer föderativen sozialistischen Sowjetrepublik. Diese wiederum war Mitglied der Sowjetunion.

Die sowjetische Verfassung sah jedoch vor, daß, sollte sich eine dieser Föderationsrepubliken von der UdSSR trennen, ihren autonomen Gebieten automatisch das Recht auf Unabhängigkeit zusteht. Es sei denn, sie verzichten ausdrücklich darauf.

Abchasien und Südossetien haben nach dem Austritt Georgiens aus der UdSSR von diesem Recht Gebrauch gemacht, genauso wie Karabach in bezug auf Aserbaidschan. Und Tschetschenien hat immer wieder die Anwendung dieser Klausel gefordert. Die juristischen Grundlagen der Russischen Föderation beruhen auf drei Texten: der Vereinbarung von Beloweschskaja Puscha über die Auflösung der Sowjetunion Ende 1991, dem Föderationsvertrag von 1992 und der Verfassung von 1993.

Tschetschenien war im weißrussischen Beloweschskaja Puscha nicht vertreten; es hat den Föderationsvertrag nicht unterzeichnet. Was das Verfassungsreferendum betrifft, das Boris Jelzin im Dezember 1993 kurz nach der Erstürmung des Parlaments durch das Militär durchführen ließ, so werden dessen Resultate nicht nur von unparteiischen Beobachtern in Zweifel gezogen.

Tschetschenien hat es abgelehnt, an dieser Abstimmung teilzunehmen, und folglich nie die russische Verfassung angenommen. Im Gegenteil: Es hat schon 1991 ein eigenes Referendum durchgeführt. Dabei sprach sich eine deutliche Mehrheit für die Unabhängigkeit aus. Dies alles läßt nur einen Schluß zu: Seit dem Untergang der UdSSR ist Tschetschenien ein Staat mit eigenen Gesetzen und einer eigenen Regierung.

Deshalb ist zu fragen, welche „verfassungsmäßige Ordnung“ die russische Armee im Kaukasus eigentlich wiederherstellt? Der Krieg in Tschetschenien ist das Ergebnis des Zerfalls der UdSSR. Und der wurde von Boris Jelzins russischem Separatismus provoziert und nicht von dem tschetschenischen Separatismus Dschochar Dudajews. Letzterer war außerdem bereit, sich einer multinationalen Union anzuschließen, wenn sie denn errichtet worden wäre.

Keinesfalls jedoch wollte Dudajew, daß Tschetschenien einem neugeschaffenen Rußland angehört. Boris Jelzin und sein Regime haben die Sowjetunion aufgelöst. Dabei waren sie sich der möglichen Folgen für Rußland voll und ganz bewußt. So war es niemand anderer als Boris Jelzin, der 1991 die Republiken dazu aufrief, „sich soviel Souveränität zu nehmen, wie sie können“. Und sind es nicht die derzeitigen russischen Machthaber, die den multinationalen Staat als „Völkergefängnis“ bezeichnet haben?

Die Voraussage, daß, falls sich die Tschetschenen gegen den Kreml durchsetzen sollten, eine Welle von gewalttätigen Abspaltungen den Kaukasus und Rußland überrollen werden, erweist sich bei näherem Hinschauen als pure Demagogie. Und dies um so mehr, als keine einzige Republik, anders als Tschetschenien, über die juristischen Mittel für eine Abspaltung verfügt.

Außerdem sind die regionalen Eliten der anderen autonomen Gebiete nicht leichtsinnig. Sie haben sich ganz bewußt für den Verbleib in Rußland entschieden und alle separatistischen Bestrebungen schon im Keim erstickt. Dabei haben sie mehr als einmal ihre Fähigkeit bewiesen, die Opposition auszuschalten, selbst die gemäßigte.

Alle Diskurse westlicher Politiker über Menschenrechte sind nichts anderes als absolute Heuchelei. Wenn der Westen wirklich an einem Ende des Krieges in Tschetschenien interessiert wäre, hätte er nicht zustimmen dürfen, die Anzahl der Panzer zu erhöhen, über die Rußland an seiner Südflanke im Rahmen des Vertrages über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa verfügen darf.

Die „Realisten“ in Europa und Moskau vergessen noch immer: Der Krieg in Tschetschenien wird weitergehen – und zwar solange, bis die Separatisten aufhören, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen. Das aber ist in absehbarer Zeit undenkbar.

Dennoch: Früher oder später werden die Völker Rußlands und Tschetscheniens ein Mittel der Koexistenz finden. Selbst für ein unabhängiges Tschetschenien bleiben die wirtschaftlichen Bedingungen aber weiter ungewiß. Eine friedliche Lösung der Frage würde zu einer Annäherung Tschetscheniens und Rußlands führen, entsprechend dem Modell des Integrationsprozesses mit Weißrußland. Allerdings wäre dies nur in Form einer wirtschaftlichen Integration, einer Union oder eines Konföderationsvertrages möglich. Eine Aussöhnung wird es aber nur geben können, wenn die Aggression als solche erkannt, benannt und verurteilt wird.

Zum Frieden aufrufen und dabei gleichzeitig die Aggression gegen Tschetschenien zu unterstützen heißt, Russen und Tschetschenen in einem wahnsinnigen Krieg zum Tode zu verurteilen. Und das ist der schlechteste Dienst, den man Rußland derzeit erweisen kann. Boris Kargarlitzki

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