: Der Schattenbildner
Eine erfindungsreiche Mischung aus Strenge und Magie ist das Markenzeichen des in Wolfsburg lebenden Fotografen Heinrich Heidersberger. Heute feiert er seinen hundertsten Geburtstag
von REINHARD KRAUSE
Es gibt Künstlerbiografien, die scheinen von frühester Jugend an vorbestimmt, und es gibt solche, die mäandrieren vor sich hin und erscheinen aus der Rückschau doch nicht weniger evident. Der Fotograf Heinrich Heidersberger ist solch ein Fall diffundierender Interessen und Begabungen, die schließlich doch zu einer unverwechselbaren Einheit zusammenfinden: Er beginnt ein Architekturstudium, ist aber mehr an der künstlerischen Seite des Bauens interessiert als an Statik oder Mathematik; er geht nach Paris und wendet sich unter dem Einfluss der Surrealisten der Malerei zu – und wird Fotograf; er erwirbt sich einen hervorragenden Ruf als streng komponierender Architekturfotograf – und mischt in den besten seiner Arbeiten Geometrie mit Magie.
Dass Heidersberger zur Architekturfotografie kam, verdankt sich einem Zufall: Im Jahr 1937 fotografiert er im Auftrag einer Bildhauerin deren Bauplastiken und erhält über diesen Umweg den Großauftrag, den Bau der Flugzeugwerke Heinkel bei Oranienburg zu dokumentieren. Später, in der jungen Bundesrepublik, wird er zu einem der wichtigsten Chronisten des Aufbaus, vor allem in Braunschweig sowie, ab 1961, in Wolfsburg. Unter den Architekten der jungen „Braunschweiger Schule“ werden Fotos von Heinrich Heidersberger zu einer Art Gütesiegel.
Weniger bekannt sind seine Fotoreportagen der 50er-Jahre, unter anderem für Henri Nannens Stern. taz.mag-Leser erinnern sich vielleicht an das reise.mag 2003 mit Fotos, die Heidersberger 1954 als Bordfotograf der „MS Atlantic“ in der Karibik aufgenommen hatte, oder an seine Aufnahmen vom Barackenlager der ersten VW-„Gastarbeiter“ in Wolfsburg.
Zu größter Meisterschaft gelangt der Autodidakt immer dann, wenn er seiner Neigung zum Tüfteln nachgehen kann – ein Zug, der selbst vor der Erotik nicht Halt macht. Eine Serie von Aktaufnahmen für den Stern leuchtet er mit einem Lochraster aus, was den Akten einen Hauch Abstraktion verleiht – und zugleich die Körperlinien besonders plastisch hervortreten lässt. Ein nicht minder geglücktes Experiment ist die Kopplung eines Mikroskops mit einer Mittelformatkamera. Statt traditionelle Forschungsfotos zu erstellen, widmet sich Heidersberger in frostkalten Nächten einem höchst verblüffenden Thema: Er fotografiert „Schneesternchen“ auf einem Glasträger. Kaum zu glauben, wie unterschiedlich die Schneekristalle strukturiert sind; ein ganzer Kosmos aus Eis, dem menschlichen Blick normalerweise verborgen.
Noch spektakulärer gerieten Heidersbergers Rhythmogramme – Schwingungsbilder von Lichtquellen, die in einer komplizierten, von ihm selbst konstruierten Apparatur über Pendel erzeugt wurden. Auch wenn diese Bilder technizistisch anmuten und ursprünglich als symbolische Visualisierung von Hochfrequenztechnik ersonnen wurden – eines der Rhythmogramme diente dem Südwestfunk Baden-Baden jahrzehntelang als Testbild –, so geheimnisvoll sind sie in ihrer abstrakten Schönheit. Jean Cocteau pries die Poesie der Rhythmogramme: „Ich möchte das Werk Heidersbergers mit der Auflehnung eines Insekts oder einer Blume vergleichen, die es müde sind, sich den Gesetzen ihrer Gattung zu beugen. Es geschieht wohl, dass Spinnen unter der Einwirkung von Drogen die Struktur ihres Netzes ändern und dass Marienfäden zu teuflischen Fallstricken werden. Bewundern wir, auch wenn wir nicht begreifen.“ Unversehens war Heidersberger wieder beim Surrealismus gelandet, einem sehr strengen, man möchte fast sagen, einem sehr deutschen Surrealismus.
Zu Ehren des hundertsten Geburtstags von Heinrich Heidersberger wird am morgigen Sonntag ein Shuttle-Service eingerichtet, der die verschiedenen Stationen der Ausstellungsreihe „Heidersberger 100“ in Wolfsburg und Braunschweig miteinander verbindet. Die Fahrt – wie auch der Eintritt zu den Ausstellungen – ist an diesem Tag frei.
Programm „Heidersberger 100“: Kunstverein Wolfsburg: „Heinrich Heidersbergers Rhythmogramme und die Computergrafik ihrer Zeit“ (bis 25. Juni); Stadtmuseum Wolfsburg: „Wolfsburg durchs Objektiv gesehen. Heinrich Heidersbergers Stadtansichten“ (bis 6. August); Institut Heidersberger im Wolfsburger Schloss: „Melancholie des Aufbruchs. Hansjörg Schneider: Papierschnitte zur Architekturphotographie Heinrich Heidersbergers“ (bis 6. August); Museum für Fotografie, Braunschweig: „MS Atlantic. New York–Cuba, 1954“ (bis 6. August) REINHARD KRAUSE, 44, ist taz.mag-Redakteur