: Der Schatten setzt Ronaldo matt
Das 0:2 bei Racing Straßburg im Uefa-Cup zeigt, daß Inter Mailand zwar eine sehr wertvolle Sammlung guter Fußballer besitzt – aber noch kein Kollektiv ■ Aus Straßburg Christoph Kieslich
Ronaldo zog sein Wollmützchen über die Ohren, sammelte seine Leibwächter um sich und suchte den kürzesten Weg zwischen Umkleidekabine und Mannschaftsbus. Es war das Ende eines kalten Abends im Elsaß. Die brasilianische Verkörperung des neuen Anspruchsdenkens beim FC Internazionale Mailand war tief gekränkt und mit heißem Schmerz im Oberschenkel vorzeitig abgetreten im Stade de la Meinau. Inter hatte gegen Racing 0:2 verloren.
Das haben im Verlauf dieser Saison schon andere Branchengrößen erlebt. Racing Straßburg spielt in der nationalen Meisterschaft zwar knapp an der Abstiegszone, sobald die Herausforderung jedoch wächst, zeigt die Mannschaft, daß sie sich auf das Niveau ihrer berühmten Gegner aufschwingen kann, sagt Trainer Jacky Duguépéroux. Der FC Metz und vergangenen Donnerstag erst Olympique Marseille wurden als Tabellenführer entzaubert; im Europapokal mußten sowohl der schottische (Glasgow Rangers) als auch der englische Rekordmeister (FC Liverpool) daran glauben. Nun also eine „Alptraum-Nacht“ (Gazzetta dello Sport) für Inter. Und das mitten hinein in den erfolgreichsten Saisonstart des Vereins. Sechs Siege in Folge in der Serie A wurden noch nie festgehalten, nach neun Spielen sind die Mailänder ungeschlagen Tabellenführer und nehmen damit ziemlich genau die Position ein, die Massimo Moratti (50) für seinem Klub als angemessen erachtet.
Der ist der Sohn von Angelo Moratti, unter dessen Präsidentschaft Inter die erfolgreichsten Jahre seiner langen Geschichte hatte. Selbst die Ära Ernesto Pellegrinis, in die die Wanderbewegung der Müller, Rummenigge , Matthäus, Brehme und Klinsmann fiel, hält trotz des 13. Meistertitels – 1989 unter Trainer Giovanni Trapattoni errungen – nicht Schritt. Der scudetto darf es auch am Ende dieser Saison sein, ein Erfolg im Europapokal sowieso.
Seinen Platz sieht Inter künftig eher im Wettbewerb mit den Landesmeistern als im Uefa-Pokal. Der Spielerkader korrespondiert denn auch eher mit dem eines Champions-League-Teilnehmers. Dafür hat Moratti im Sommer 106 Millionen Mark auf dem Spielermarkt investiert. Allein 50,25 Millionen gingen für Ronaldo an den FC Barcelona. Bei einem Spiel wie dem in Straßburg liest sich die Liste der verhinderten Spieler dann so: Zamorano, Kanu und Berti verletzt, Fresi, Simeone und Moriero auf der Bank. Diese Aufzählung ist unvollständig, zeigt aber, mit welch ungeheuerem Spielermaterial und -potential Inter jongliert.
Das einzig verblüffende bei der Zusammenstellung ist die Besetzung des sportlichen Leiters. Nachdem Inter in den vergangenen fünf Jahren sieben Trainer verschlissen hat, löste im Sommer Luigi Simoni den – von den Mailänder Zuständen frustrierten – Engländer Roy Hodgson ab.
Simoni ist ein freundlicher Mann, aber keiner mit höherer Reputation im Geschäft. Sein Wirken in Genua, Cremonese oder zuletzt in Neapel war meistens von zweistelligen Tabellenplätzen gekennzeichnet. Unter den Experten erwarb er sich den Ruf eines catenacciaro, eines Maurermeisters.
Die Ausgabe 97/98 von Inter Mailand besitzt indes soviel Offensivkraft, daß Sicherheitsvorkehrungen unumgänglich scheinen. Eine Lektion erhielt die Mannschaft schon gegen den FC Lyon. Sorglos schlitterte sie in eine 1:2-Heimniederlage, um 14 Tage später in Frankreich mit einem 3:1-Erfolg das Weiterkommen doch noch zu sichern. Die Tore erzielten Franceso Moriero und Benoit Cauet, und Trainer Simoni stellte fest: „Es gibt nicht nur Ronaldo.“
Doch hohe Ansprüche münden nicht automatisch darin, daß der Gegner in Ehrfurcht erstarrt. Drei Tage nach dem bewegten 2:2 im Mailänder Derby („Una bellissima partita“, Luigi Simoni) war es der Racing-Club, der mit großer Selbstverständlichkeit auftrat. Ehe sich die Interisti versehen hatten, lagen sie 0:2 zurück. Kapitän Gerald Baticle im Anschluß an einen Eckball, und der junge Valerien Ismael, ein Zögling aus der Racing- eigenen Fußballschule, legten ein 2:0 vor. Beeindruckend war, wie die Franzosen anschließend den Vorsprung verwalteten: mit großer Leidenschaft, aggressivem Zweikampfverhalten und dennoch immer darauf bedacht, sich mit spielerischen Mitteln zu behaupten.
Der gefeierte Mann des Abends war Godwin Okpara. Der Nigerianer war der Schatten Ronaldos und löste die Aufgabe gegen den Superstar ohne Fouls. Außer einem spektakulären Freistoß und einem Kopfball gegen den kleineren Okpara zeigte sich Ronaldo bald entnervt. Racing-Torwart Alexander Vencel wußte, wem die Mannschaft den Erfolg maßgeblich zu verdanken hatte: „Es war Godwins Arbeit.“ Daß Ronaldo Mitte der zweiten Halbzeit nach einem Zweikampf angeschlagen vom Platz ging, beeindruckte Okpara nicht: „Ich habe den Ball gespielt.“ Als die Mailänder in der zweiten Hälfte ihre vornehme Zurückhaltung aufgaben, vor allem mit der Einwechslung von Moriero, an Zielstrebigkeit gewannen und Straßburg dem hohen Aufwand Tribut zollen mußte, ließ Inter erahnen, daß das Rückspiel noch Möglichkeiten zur Ergebniskorrektur offen läßt.
Die Lösung hat Inter noch nicht gefunden: Eine große Ansammlung von Individualisten ergibt noch kein funktionierendes Kollektiv. Das war schon im Uefa-Pokal-Finale gegen Schalke zu besichtigten. Diesen hohen Grad der Organsisation auf dem Feld hat Jacky Duguépéroux mit Straßburg erreicht. „Unser Spiel war nicht perfekt“, sagte der, „aber nahezu.“
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