: Der Prüfstand
Heute: Brauchen wir eigentlich noch … Flächentarifverträge?
Was für eine Frage! Natürlich brauchen wir noch Flächentarifverträge! Für die ArbeitgeberInnen schaffen sie Planungssicherheit und Kostengleichheit bei den Personalausgaben, für die ArbeitnehmerInnen die Sicherheit, dass sie auch in der Fläche gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhalten, sowie die Sicherheit, dass sie auch in kleineren, gewerkschaftlich noch nicht so gut organisierten Betrieben an der Lohnentwicklung teilnehmen. Gäbe es keine Flächentarifverträge, hieße es zudem für Arbeitgebervereinigungen und Gewerkschaften, ständig und überall Tarifverhandlungen zu haben. Es wäre ein ungeheurer Aufwand und es gäbe viele Betriebe mit Haustarifverträgen!
Jürgen Senge, Schwelm
Da stellt sich mir zuerst die Frage: Wie viel Prozent der Bevölkerung wissen überhaupt, was ein Flächentarifvertrag ist? Der Duden und Meyers großes Taschenlexikon kennen ihn jedenfalls nicht.
Ich aber schon. Er gilt eben nicht für einen einzelnen Betrieb, sondern für alle Betriebe auf einer bestimmten Fläche, zum Beispiel Berlin-West oder Berlin-Ost + Brandenburg + Sachsen. Und der Sinn ist, dass durch Kampfmaßnahmen (also notfalls Streik) in den kampfstarken (also meist Groß-)Betrieben Tarife für alle erkämpft werden. Dies ist doch ein wunderbarer Solidaritätsgedanke, den wir uns dringend erhalten sollten. Schon die Tatsache, dass die Arbeitgeberverbände ständig gegen ihn wettern, spricht dafür, ihn zu bewahren.
Manuela Wegener, Berlin
Ich habe noch kein Geld nach Flächentarifvertrag verdient. Ich möchte mein Gehalt auch lieber mit meinem Arbeitgeber persönlich verhandeln. Ich will so viel verdienen, wie ein Kompromiss aus meinen Forderungen und seinem Nachgeben hergibt. Sehr schön an gleichmachender Bezahlung ist allerdings, wenn man im Osten lebt und für einen Münchner Konzern arbeitet, per Internet. Dann verdient man 11 Euro die Stunde, und die sind in Berlin oder Leipzig lange nicht so schnell ausgegeben wie im teuren München.
Anne Kling, Berlin
Tarifverträge sollen gleiche Lebensverhältnisse in der ganzen Bundesrepublik gewährleisten. Heißt das im Umkehrschluss, dass ohne Tarifverträge unterschiedliche Lebensverhältnisse in verschiedenen Teilen der Republik herrschen?
Nein, die gibt es immer, und das auch mit Tarifverträgen, denn sie liegen in den regionalen Besonderheiten begründet (Industrieansiedlungen, Infrastruktur, Lebensqualität, Rohstoffe, Bevölkerungsdichte, Qualifikation etc.). Wenn nun ein Bauarbeiter in München genauso viel verdienen soll wie ein Bauarbeiter in einer Kleinstadt, seine Arbeit dem Unternehmer in München aber mehr einbringt, dann ist entweder der Münchner Arbeiter unterbezahlt oder der Kleinstädter überbezahlt – Letzteres nur noch so lange, bis sein Chef den Betrieb schließen muss. Tarifverträge gaukeln also nur gleiche Lebensverhältnisse vor, sind unehrlich und verschärfen die Ungleichheit der Lebensverhältnisse. Besser wäre es für alle, wenn der Kleinstädter die Wahl hätte, wenig zu verdienen, aber Arbeit in der Heimat zu haben – oder in München Geld zu verdienen (von dem er einen Teil in seiner Kleinstadt wieder ausgibt, wo er sich ein Ferienhaus leisten kann). Christoph v. Stein, Rostock
Vielleicht sollte man lieber gleich fragen: Brauchen wir eigentlich noch die Gewerkschaften? Als gewerkschaftlich organisierter Arbeitsloser zumindest beschleicht einen das ungute Gefühl, dass mit dem Mitgliedsbeitrag auch die Interessensvertretung wegfällt. Es mag ja verständlich sein, dass sich die Gewerkschaften nicht länger von den Arbeitgebern mit dem (reichlich konkreten) Schreckgespenst der Massenarbeitslosigkeit unter Druck setzen lassen wollen – durch reine Besitzstandswahrung und -mehrung für diejenigen, die noch Arbeit haben, tun sie jedoch genauso wenig gegen die Arbeitslosigkeit wie die Arbeitgeber.
Bernd Clausen, Dresden
Unsere Prüfstandfrage für nächsten Sonnabend lautet: Brauchen wir eigentlich noch … GEBETE? Antworten bitte bis Mittwoch früh an die tageszeitung, Brauchen wir?, Kochstr. 18, 10969 Berlin; Fax (0 30) 2 59 02-6 54, E-Mails bitte nur an fragen@taz.de