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Archiv-Artikel

american pie Der Patient Barbaro

Amerikanische Sportfans sorgen sich derzeit um ein verletztes Rennpferd, dem eine Karriere als Deckhengst bevorsteht

Die Welt sorgt sich um einen gefallenen Helden und fragt sich: Was hat Materazzi gesagt? Die USA hingegen fragt sich: Was zum Teufel ist Hufrehe? Sicherlich: Auch amerikanische Sportfans diskutieren die Entgleisung von Zinedine Zidane. Aber zwei Tage nach dem WM-Endspiel hat bereits eine andere Tragödie wieder die Schlagzeilen der Sport-Seiten übernommen: Das Schicksal des Vollbluthengstes Barbaro bewegt die Nation.

Das Rennpferd gewann am 6. Mai das Kentucky Derby in Louisville mit dem gewaltigen Vorsprung von sechseinhalb Längen, dem größten seit 60 Jahren. Nach dem Sieg bei dem mit zwei Millionen Dollar dotierten Rennen wurde dem in allen seinen sechs Starts ungeschlagenen Barbaro von den Rennsportexperten zugetraut, die begehrte Triple Crown zu gewinnen – Siege im Derby, Preakness Stakes und Belmont Stakes in einem Jahr. Eine Leistung, die keinem Dreijährigen seit 1978 mehr gelungen ist. Doch vor sieben Wochen, nach nur wenigen hundert Metern des zweiten Rennens, dem Preakness Stakes auf der Galopprennbahn von Baltimore, vertrat sich Barbaro das linke Hinterbein. Der Hengst stürzte nicht, aber Jockey Edgar Prado musste ihn langsam zum Halten bringen. Der Traum von der Triple Crown war ausgeträumt. Und schlimmer: Drei Knochen im Hinterbein waren gebrochen. Barbaros Rennkarriere war damit beendet. Andere Pferde wären mit solch einer Verletzung sofort eingeschläfert worden. Auf Barbaro aber wartete eine lukrative Karriere als Deckhengst. Also wurde er noch am folgenden Tag im New Bolton Center in Pennsylvania fünf Stunden lang operiert, eine Platte und 27 Schrauben aus Titan wurden eingesetzt. Um das operierte Bein zu entlasten, hing Barbaro zeitweise in einer Fiberglas-Konstruktion, und wurde in Wassertanks gehievt. Trotz einiger weiterer Operationen und einer Infektion verlief die Rehabilitation gut.

Doch nach einem vorläufig letzten Eingriff traten nun neue Komplikationen auf. „Es ist ein Rückschlag“, ließ sein Arzt Dean Richardson verlauten. In drei Stunden waren Titanplatte und -schrauben entfernt worden, weitere zwölf Stunden dauerte es, bis Barbaro aus der Narkose erwachte. Nun droht dem Hengst die Hufrehe, eine Entzündung der Huflederhaut, die im schlimmsten Fall dazu führen könnte, dass Barbaro seinen Huf verliert. Dreibeinig wäre er kaum noch in der Lage, seinen Fortpflanzungsverpflichtungen nachzukommen. Wenn er überhaupt überlebt: Die Chancen darauf beziffern die Ärzte auf gerade mal 50 Prozent.

Eins haben beide Tragödien, die die Welt momentan beschäftigen, gemeinsam: Beide Protagonisten schweigen hartnäckig. Vom Rennpferd a. D. allerdings ist immerhin bekannt, dass sein Appetit prächtig ist: „Er ist sehr hungrig“, so Richardson, „er hat einen normalen Herzrhythmus, normale Temperatur, er frisst wie ein Verrückter und produziert haufenweise Dung. Momentan scheint er glücklich zu sein.“ Wie es wohl Zinedine Zidane geht? THOMAS WINKLER