■ Der Orientalist Olivier Roy über den politischen Islam: „Der Slogan hat das Buch ersetzt“
Olivier Roy arbeitet als Islamwissenschaftler beim Centre National de Recherches Sociales und ist Autor des 1992 bei Edition Seuil erschienenen Buches „L'Echec de l'islam politique“ („Die Niederlage des politischen Islam“).
Frage: Woher kommt der aktuelle Islamismus? Wie fügt er sich in die jüngere Geschichte des Islam ein?
Olivier Roy: Der Islamismus ist Ende der 20er und in den 30er Jahren entstanden. Die „Gründerväter“ waren in Ägypten die Moslembrüder von Hassan Al Banna und auf dem indischen Subkontinent die Jama'at-i Islami, die von Abul Maududi gegründet wurde. Der Islamismus ist in Wirklichkeit eine Reaktion muslimischer Reformisten auf westliche Fortschrittsideologien wie etwa den Marxismus. Die Religion wird als eine totalisierende politische Ideologie interpretiert, die alle Aspekte des täglichen Lebens umfassen und sich sowohl in der Gesellschaft (von unten) wie auch im Staat (von oben) verankern muß.
Aus diesen Strömungen der Gründungsphase enstanden später in der ganzen Welt politische islamistische Bewegungen. Sie differenzieren sich dann Ende der 60er Jahre aus, als Ideologien wie der Sozialismus und der „Tiersmondisme“ (Dritte-Welt-Fetischismus) an Boden verlieren und ein Vakuum entsteht, das zu besetzen sich der Islamismus beeilt. Auf der einen Seite entsteht er als Reaktion auf Fortschrittsideologien, auf der anderen Seite rekrutiert er da, wo diese auf dem Rückzug sind: in Ägypten, im Iran und in propalästinensischen Bewegungen.
Die islamistischen Bewegungen von heute unterscheiden sich demnach stark von den Moslembrüdern der 30er Jahre?
Die jungen radikalen Muslime von heute stellen sich in die Tradition der Moslembrüder und von Menschen wie Sayyid Qotb, der unter Nasser hingerichtet wurde und dessen Schriften als Bezugspunkt dienen. Doch sie haben den Islamismus in gewisser Weise intellektuell und gesellschaftlich vulgarisiert. Die Moslembrüder waren gebildete Leute, Notabeln, die in der Gesellschaft verankert waren, während im heutigen islamistischen Dunstkreis die intellektuelle und politische Reflexion verkümmert ist. Der Slogan hat das Buch ersetzt.
Sehen Sie Unterschiede zwischen dem schiitischen und dem sunnitischen Islamismus?
Bei beiden findet man dieselbe Vorstellung, daß der Islam auch eine politische Ideologie ist und daß er eigene Institutionen entwickeln und, ausgehend vom Staat, die Gesellschaft neu formen muß. Wenn es eine schiitische Besonderheit gibt, dann liegt sie im Chiliasmus, der einen revolutionären Eifer nährt, den man bei den Sunniten nicht findet, und in jüngerer Zeit auch in der Existenz eines Klerus, der sich berufen fühlt, im politischen Geschäft mitzumischen. Khomeini hat zweifellos ein System politischer Organisierung durch den Klerus errichtet, das es bisher noch nirgends gab. Aber der Schiismus ist nicht a priori politischer oder radikaler als der Sunnitismus. Man kann sogar feststellen, daß es in den Bibliotheken der schiitischen Ayatollahs mehr Bücher westlicher Autoren gibt als in jenen der sunnitischen Ulemas, die intellektuellen Debatten, wie sie der Westen kennt, eher indifferent gegenüberstehen.
Was verlangen denn die Islamisten konkret? Welche Art Gesellschaft streben sie an?
Ägyptische Autoren wie Hassan Al Banna oder iranische wie Motahhari haben über die Institutionen, die Rolle der Bank und der Familie in islamischen Ländern reflektiert. Das islamistische Denken heute hingegen reduziert sich auf Slogans wie „Alles steht im Koran“. Der Koran soll auf alles eine Antwort haben: auf die Armut, die Ungerechtigkeit, den Imperialismus und so weiter. Die Flugblätter und Slogans dieser Islamisten beruhen auf der Faszination der Militanz. Man brauche bloß das islamische Gesetz, die Scharia, anzuwenden, sagen sie. Aber hat nicht selbst Khomeini gesagt, daß die Scharia nur ein formaler Rahmen ist, der immer wieder durch ein revolutionäres Anliegen belebt werden muß? Daß sich der heutige militante Aktivismus von der ursprünglichen islamischen Reflexion abgekoppelt hat, finde ich äußerst betrüblich.
Kann man von drei Formen des Islamismus sprechen: einem Islamismus an der Macht in Iran, einem Islamismus, der mächtig ist in Algerien, und einem entstehenden Islamismus im Westen?
Ich ziehe vor, von zwei Modellen des Islamismus zu sprechen: einem revolutionären universalistischen Modell iranischen Typs und einem saudiarabischen Modell, das sich im wesentlichen auf die Kontrolle der Sitten beschränkt. Anders gesagt: Iran bedeutet Revolution plus Tschador, Saudi-Arabien bedeutet Erdölprofite plus Tschador, und Algerien wird der IWF plus Tschador sein ... Im übrigen ist im Iran der Klerus versucht, sich aus dem politischen Geschäft zurückzuziehen. Er ist nun offenbar immer deutlicher der Ansicht, daß das seine Aufgabe nicht ist, daß man die Politik den Politikern, die Wirtschaft den Wirtschaftlern überlassen muß und daß sich die religiöse Kontrolle auf die Sitten, auf die Familie, auf das Rechtswesen und die Kultur zu beschränken hat. Tut sich im Iran vielleicht nicht gerade Raum für einen politischen Laizismus auf?
Das wäre eine Bestätigung Ihrer These von der „Niederlage des politischen Islam“ ...
Gewiß. Ich sage nicht, daß der Islam an sich eine Niederlage erlitten hat, aber daß es zur Niederlage führt, wenn man den Islam in politischen Kategorien begreift. Das ist der grundsätzliche Widerspruch jedes Islamismus.
In Algerien wird auch die FIS („Islamische Heilsfront“) bald auf diesen Widerspruch stoßen. Und dieser wird sich bei einer unerbittlichen Kontrolle der Sitten um so mehr verschärfen, als sie sich als unfähig erweisen wird, die Politik und Wirtschaft zu führen. Was soll man noch über jeden Mangel an Öffnung, an Universalismus hinzufügen? Die FIS ist auf sich selbst bezogen, sie greift nicht auf Tunesien oder Marokko über, während andererseits der revolutionäre Iran die irische IRA, die baskische ETA, die Kubaner, ja sogar die christlichen Befreiungstheologen unterstützt. Die FIS ist nicht Träger eines chiliastischen Universalismus wie die iranische Revolution. Sie ist eine algerische Bewegung, die sich allen Problemen der algerischen Gesellschaft wird stellen müssen.
Kann man trotzdem die gesellschaftliche Wirkung der islamistischen Regime oder Bewegungen ermessen?
Saudi-Arabien funktioniert dank der Ölprofite, in geringerem Maß gilt das auch für den Iran. In den andern Ländern sind die islamistischen Bewegungen in der Opposition. Sie besetzen dort das Vakuum, das der Staat hinterlassen hat, sie füllen die Defizite aus, die die schnelle Urbanisierung und das lückenhafte Bildungssystem hinterlassen haben. Sie gründen Kooperativen, Transportgesellschaften, Krankenversicherungen, Bibliotheken et cetera.
Aber was wird aus diesen islamistischen Bewegungen, wenn sie an die Macht kommen? Der Beweis ist erbracht – im Iran, in Algerien nach dem Sieg der FIS bei den Kommunalwahlen –, daß der Diskurs der Tugendhaftigkeit, der jeder Opposition zu eigen ist, der Versuchung der Macht nicht widersteht. Das gilt für diese islamistischen Länder wie auch anderswo, wo ebenfalls Vetternwirtschaft und Korruption herrschen. Dies ist ein weiterer Widerspruch, denn die islamische Weltanschauung kann die Machtfrage nur in Begriffen der Tugend und Ethik stellen.
Kann es im Westen zu einem Islamismus kommen?
Den Islamismus kann man sich überall vorstellen, wo es Räume gesellschaftlicher Ausgrenzung gibt, wo ausgebildete Jugendliche keine Anerkennung finden und sozial nicht integriert werden. In Frankreich sind zwar die Gebiete sozialer Ausgrenzung, die heißen banlieues, von der ausländischen Bevölkerung geprägt. Aber die Mehrheit der Ausländer lebt nicht in diesen Gebieten. So werden also selbst die aktivsten Islamisten in Frankreich Minderheit innerhalb der islamischen Minderheiten sein, nicht eine Avantgarde-Partei, sondern Sekten.
Ist der Islam mit den Regeln des Laizismus vereinbar?
Das ist eine falsch gestellte Frage. Denn in den islamischen Gesellschaften war die Macht immer laizistisch. Sicher, er gibt sich eine religiöse Legitimation, aber die politische Funktionsweise war immer völlig laizistisch. Die Behauptung „alles ist religiös“ mündet letztlich in fataler Weise in Tautologien oder in Widersprüche. Gewiß gibt es in der islamischen Gesellschaft keinen Laizismus im französischen Sinn des Wortes und gibt es – die Türkei vielleicht ausgenommen – keinen Diskurs über den Laizismus. Aber in der Funktionsweise des Sozialen und des Politischen gibt es offene Räume für Laizismus.
Das Problem des heutigen Islam ist die Diskrepanz zwischen dem totalisierenden Diskurs der Religion und der Wirklichkeit einer Gesellschaft. Es geht nicht darum, einen Laizismus zu akzeptieren, der ohnehin schon da ist, sondern sich über die Realität Rechenschaft abzulegen. Diese Wirklichkeit wird von den islamistischen Bewegungen geleugnet. Ihre Verblendung drückt sich sowohl im Diskurs über die Konversion schlechter Muslime aus wie auch in der These von einer Verschwörung des Reichs des westlichen Bösen, des großen Satans, der Juden, des inneren Feindes. Das Problem für den Islam besteht also nicht darin, einen Laizismus, den es ohnehin gibt, zu erfinden, sondern darin, die Wirklichkeit, die er verleugnet, zu denken.
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