Der Niedergang der Sozialdemokratie: "Rosa lackierter Kapitalismus"
Die gesamte europäische Linke wisse keine Antworten auf die Krise des Kapitalismus, sagt Parteienforscher Franz Walter im Interview. Nun steht sie vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik.
taz: Herr Walter, das Ergebnis der Europawahl ist ein Desaster für die SPD, die Union ist noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.
Franz Walter: Die Union sollte sich nicht zu sehr über das Ergebnis freuen. In zehn Jahren zehn Prozentpunkte zu verlieren ist für sie eine ernste Niederlage. Da gibt es nichts zu feiern.
Das bürgerliche Lager hat dennoch eine Mehrheit erlangen können.
Was heißt das schon? 2004 sah es bei der Europawahl genauso aus, 2005 gab es bei der Bundestagswahl trotzdem keine bürgerliche Mehrheit. Die Europawahlen kann man nicht direkt auf die Bundespolitik übertragen.
Die SPD ist dennoch mit ihrem Wahlkampfkonzept gescheitert.
Welches Konzept? Die SPD hat lediglich eine Kampagne gegen CDU und FDP geführt. Aber darin liegt schon das Problem. Die SPD regiert mit der Union und hätte im Bund gerne eine Ampelkoalition mit der FDP. Sie kann gar nicht glaubwürdig gegen die beiden Parteien mobilisieren, weil die SPD sie als Partner braucht.
Ist Steinmeier als Vertreter der Agenda 2010 unglaubwürdig für einen neuen Linkskurs?
Ja. Aber das Problem liegt noch tiefer. In ganz Europa erlebt die Sozialdemokratie einen Niedergang. In Holland sind die Werte halbiert, in Großbritannien kollabiert die Labour-Partei, in Österreich und Frankreich sieht es ganz ähnlich aus.
Wo liegen die Ursachen?
Die Sozialdemokraten waren in vielen Ländern ab Mitte der Neunzigerjahre im Aufschwung - damals mit der Neuen Mitte und rosa lackiertem Kapitalismus. Jetzt stehen sie vor dem Scherbenhaufen dieser Politik, mit der sie viele Wähler verloren haben. Sie haben ganze Bevölkerungsteile demobilisiert. Und sie haben sich selbst deartikuliert. Eine eigene sozialdemokratische Sprache und Vorstellung existiert nicht mehr.
FDP und Grüne haben sich behauptet. Profitieren sie von der Schwäche der Volksparteien?
Beide Parteien sind sehr bürgerlich, und auch die Europawahlen sind äußerst bürgerlich. Denn die Wähler, die sich mobilisieren lassen, sind die eher wohlhabenden, die den Kontinent regelmäßig bereisen und fremde Sprachen sprechen. Deswegen ist das gute Ergebnis von FDP und Grünen nur logisch.
Die Linke konnte hingegen nicht punkten.
Die waren ja überrascht, dass der oft kritisierte Kapitalismus tatsächlich ins Wanken gekommen ist - vernünftige Konzepte gibt es dort auch nicht. Es ist allgemein ein Problem der Linken, auch bei den Intellektuellen, dass wenig nach vorne gedacht wird. Nur die Vergangenheit wird schlau analysiert. Aber in der Frage, was kommt, ist die das linke Lager insgesamt schwach wie nie.
Schwach war auch die Wahlbeteiligung.
Die Menschen haben das Gefühl, dass in Europa Eliten für Eliten Entscheidungen treffen. Die Distanz zwischen den Bürgern und der Politik ist auf keinem Gebiet derart groß wie in der Europapolitik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen