■ Der Naziterror-Anschlag in London fiel nicht vom Himmel: Voreilige Erleichterung
Von der liberalen Gesellschaft, die Premierminister Tony Blair immer wieder beschwört, ist Großbritannien genausoweit entfernt wie viele andere Länder. Das haben die drei Anschläge auf Minderheiten in London in den vergangenen Wochen deutlich gemacht. Fast erleichtert verweisen Politiker und Medien auf einen Einzeltäter, einen Verrückten, mit dessen Festnahme der Spuk vorbei sei. Doch den Boden für seine Taten haben Politiker und Medien, Polizei und Justiz bereitet.
Wenn ein Richter öffentlich beklagt, daß zu viele Schwarze, Schwule und Lesben ins Richteramt berufen werden, wenn die Polizei sich bei der Untersuchung des Mordes an einem Schwarzen des blanken Rassismus schuldig macht, wenn das Boulevardblatt Sun auf der Titelseite fragt, ob das Land von einer „Schwulenmafia“ regiert wird – dann versteht manch Wirrkopf das als grünes Licht für Gewalt.
Genießen ethnische Minderheiten wenigstens noch den Schutz der Gesetze, so gilt das für Homosexuelle nicht. Sie dürfen straflos diskriminiert werden, das Mindestalter für sexuelle Beziehungen liegt höher als bei Heterosexuellen, und in die britische Armee werden sie nicht aufgenommen. Verschiedene Zeitungen schwadronierten am Wochenende über die Möglichkeit, daß die Bombe vom Freitag auch Heterosexuelle hätte treffen können – als ob die Tat dadurch verwerflicher würde.
Die Neonazis sind zum Glück eine verschwindend kleine Minderheit – auch wenn die rassistischen Übergriffe im vorigen Jahr eine Rekordmarke erreicht haben. Beunruhigend ist, daß es nicht der letzte Anschlag gewesen ist, auch wenn der Täter nun festgenommen zu sein scheint. Denver und Alberta, Brixton und Soho sind Verbrechen, die in das Medienzeitalter hineinpassen. Der Krieg in Jugoslawien ist, wie bereits der Golfkrieg, wie ein Videospiel aufgezogen: Das Ziel wird allabendlich auf dem Fernsehschirm ins Visier genommen, ein Knopfdruck, und weg ist die Brücke.
Gibt es etwas Perverseres, als Raketen mit Kameras zur Unterhaltung der Daheimgebliebenen auszurüsten? Ist es so überraschend, daß ein schwacher Geist die Bildschirme der Illusion und die Realität verwechselt? Zumal Tony Blairs Definitionen flexibel sind: Eine Bombe auf einen Markt oder eine Schwulenbar in London ist ein abscheuliches Verbrechen; eine Bombe auf einen Bus oder eine Eisenbahn in Jugoslawien ist ein bedauerliches Versehen.
Ralf Sotscheck
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