: Der Muff ist noch darin
■ Im April 1960 erschien ein Heft der Zeitschrift 'magnum‘ zur Frage „Haben die Deutschen sich verändert?“ Sie wurde damals unter anderem beantwortet von Klaus Happrecht, Carl Zuckmayer, Golo Mann, Ernst Krenek und Erich Kuby. Wir bringen hier Kubys Antwort von damals und seine heutige Sicht der Dinge.
Erich Kuby
Tapeten, die man vor 1933 gerade noch auf dem Kurfürstendamm kaufen konnte, in Köln aber schon nicht mehr, weil sie dort als übertrieben modern empfunden worden wären, verkauft man heute in Regensburg und Kiel. In deutschen Familien werden heute außer beim Osterputz, wie früher, auch an anderen Tagen die Fenster geöffnet und frische Luft hereingelassen, und es soll, sagt die Fama, ein Minderheit geben, die sich dem Abenteuer aussetzt, bei offenen Fenstern zu schlafen. In Ferienorten des In- und vor allem des Auslandes kann man beobachten, daß das Zuviel an Kleidung, das unsere Eltern noch getragen haben, einem Zuwenig Platz gemacht hat. Der Loden-Deutsche ist durch den short-Deutschen ersetzt worden, und was ihm unten an Stoff fehlt, ersetzt er gern auf dem Kopf durch eine weiße Autokappe, die er für schick hält. Das heißt, die Lächerlichkeit ist der Peinlichkeit gewichen.
Aber im ganzen darf man wohl sagen, daß das „Deutsche Wunder“, die in unserer Geschichte erstmalige Bekanntschaft breiter Schichten mit Geld, den Muff etwas ausgetrieben hat. Eine überaus erfreuliche Erscheinung! Das Geld aber war ursprünglich nicht national wertfreies, sondern unmißverständlich amerikanisches Geld, und wes Brot ist eß‘, des Lied ich sing‘, besonders bei uns. Es gibt wohl auf der ganzen Welt, einschließlich der kommunistischen Staaten, nur ein verbindliches zivilisatorisches Vorbild, Amerika; aber wie wir uns amerikanisiert haben, das geht am weitesten und am tiefsten. Die Amerikanisierung hat sogar unsere Sprache erfaßt, dergestalt, daß das konservative Deutsch der „DDR“ sieht man vom Partei-Jargon ab - von uns als unmodern empfunden wird. Nur der Umstand, daß wenige Bewohner der Bundesrepublik in der Lage sind, Vergleiche zu ziehen, hat die Tatsache noch nicht allgemein bekannt gemacht, daß in zwei deutschen Staaten zwei verschiedene Umgangssprachen gesprochen werden, nach knapp 15 Jahren der Trennung, und zwar nicht nur hinsichtlich eines stark differierenden Wortschatzes, sondern auch des Sprachrhythmus‘ und der Satzstellung.
Es ist klar, daß die hier angedeuteten Veränderungen keine Garantie bieten dafür, daß auch politisch der Muff dem Volk etwas ausgetrieben wurde durch Geld und Machtschwund. Die Frage ist, ob die Westdeutschen, die so leichträderig zu Millionen durch die Kontinente schweifen, zu sich selbst, zu Fahne und Vaterland, und zur Umwelt heute ein offeneres, vernünftigeres Verhältnis haben als noch vor 30 Jahren. Die Formel, Bonn sei nicht Weimar, von ihrem Erfinder so gemeint, daß die Bundesrepublik ein politisch stabileres Gebilde sei als die Weimarer Republik, kann man vieldeutiger auslegen. Dann fällt auf, daß die Deutschen zwischen dem Ersten Weltkrieg und Hitler anscheinend ein anderes Verhältnis zur Politik hatten als heute. Was sich im Extrem als Saalschlachten und Straßenkrawalle äußerte und gemeinhin der Weimarer Zeit als ihre politische Schwäche angehängt wird - nämlich eine politische Ragibilität der Bewohner, war in Wahrheit ihre Stärke, und nicht daran ist die Demokratie in den zwanziger Jahren zugrunde gegangen, daß es harte innere Auseinandersetzungen gegeben hat, sondern daran, daß die Demokraten Angst vor der eigenen Courage hatten. Ohne Zweifel gab es damals außer den die politischen Geschäfte führenden „Tätern“, die ja immer Opportunisten der Macht sind, und den in verschiedenen Konformismen aufgespaltenen Wählern, die wie immer letzten Endes die Kälber waren, die ihre Metzger selber wählten, eine stattliche Minderheit von „Merkern“, die sich den Luxus des Nachdenkens leisteten und Männern wie Tucholsky, Ossietzky und anderen, Zeitungen wie der Vossischen, dem Berliner Tageblatt, der Frankfurter, und Zeitschriften wie der Weltbühne ein ideales Publikum waren. Mit einem Wort: Es war noch geistiges Leben in der deutschen Bude, bis zum Reichstag hinauf, und es ist nichts anderes als ein infamer Schwindel potentieller Faschisten, wenn behauptet wird, eben dieses geistige Leben habe zuletzt Hitler seine Chance gegeben, weil die Zeitkritik das Volk der Demokratie entfremdet hätte.
Dieses geistig-politische Leben flackerte nach 1945 noch einmal ein bißchen auf, aber damals hatten die Deutschen zuwenig zu essen und bekamen einen neuen charismatischen Führer, unter dessen nun zwölfjähriger Herrschaft das geistig-politische Leben in der Bundesrepublik erloschen ist, getreu der Maxime: Nur keine Experimente. Da Denken immer Experiment ist, eine letzten Endes moralische Kraft, von der man nie vorher weiß, wohin sie führt, sind wir ein Volk geworden, das nicht mehr denkt, und wo immer man im Ausland mit drei denkenden Menschen zusammentrifft, muß man sich die Frage gefallen lassen: Wo ist eigentlich die deutsche Stimme im internationalen Chor?
Sie ist nicht da. Das Volk ist von einer beängstigenden Stummheit. Ich bin der Überzeugung, daß diese Epoche des Stummseins eben jetzt zu Ende geht, denn die Formeln des Kalten Krieges, die nie von der Wirklichkeit gedeckt waren, haben jetzt auch den letzten Anschein von Glaubwürdigkeit verloren, und in manchen Köpfen dämmert es, daß wir harten Zeiten entgegengehen und den Krieg doch verloren haben. Es beginnt die große Desillusionierung, die, es kann gar nicht anders sein, zu einer Repolitisierung des Volkes führen wird. Das ist zunächst ein ganz neutraler Begriff, und alles, wirklich alles - nämlich der Friede in Europa und damit auf der Welt, hängt davon ab, welchen Inhalt diese Repolitisierung haben wird.
Wie gern würde man sich der Hoffnung hingeben, daß die short-Deutschen mit ihrer amerikanischen Zivilisation keine Nationalisten mehr sind. Aber redlicherweise kann man nur feststellen, daß sie in ihrer Mehrheit bis zur Stunde politisch noch ein unbeschriebenes Blatt sind. Ich weigere mich, in den alle vier Jahre abgegeben Plebisziten für Eisschränke und „Keine Experimente“ politische Entscheidungen zu sehen. Es kommt also alles darauf an, wer was auf dieses Blatt künftig schreibt. Und hier lassen sich nun allerdings einige Voraussagen machen: Die Staatspartei, die sich in zwölf leichten Jahren daran gewöhnt hat, daß dieser neugeschaffene Staat ihr Eigentum sei, von dem sie sich nicht mehr zu trennen wünscht, wird den Griffel führen. Sie will ihre Herrschaft über jenen Augenblick hinaus verlängern, in dem nicht mehr verschleiert werden kann, daß der Kalte Krieg die nationalen Interessen der Deutschen (die Wiedervereinigung) niemals gedeckt hat. Im russisch -amerikanischen Weltgeschäft wird der Status quo Deutschlands zementiert werden, und die beiden Staaten werden eine völlige Gleichberechtigung in der Welt erreichen. Das wird der Bankrott Bonner Politik sein. Um ihn aber nicht erklären zu müssen, hat die Staatspartei bereits begonnen, den nationalistischen Ofen anzuheizen. Man lehrt das Volk, daß heute die bösen Russen, morgen auch ein mehr oder weniger böser Westen den Deutschen wieder einmal feindlich gesonnen sind, ihnen nichts „gönnen“, und daß nur die „anderen“, nicht aber die eigene falsche Politik daran schuld sind, wenn unsere, uns legitim erscheinenden Ansprüche nicht erfüllt werden. Schon jetzt sind Begriffe wie „Heimatrecht“ und „Verzichtpolitiker“, deren chauvinistischer Kern nur von völlig Blinden nicht gesehen wird, Ausgangspunkt für nationalistische Innenpolitik.
Ich glaube nun nicht, daß die Deutschen von heute in der Lage sind, das Spiel zu durchschauen, das da beginnt. Sie werden nicht erkennen, daß die Rattenfänger nur ein anderes Kostüm tragen, sie aber dieselbe Straße führen. Warum sollten sie auch? Haben die Besitzer der Macht, hat die Autorität in diesem Lande nach 1948 irgendeinen Versuch politischer Erziehung unternommen? Ist, was vorher war, nicht einfach nur vom „Deutschen Wunder“ zugedeckt worden, so wie der Nationalismus der „DDR“ nur im Kommunismus eingefroren ist?
Ich glaube, daß der politische Muff dem Volk nicht ausgetrieben worden ist. Wir werden unsere schwarzen und schwarz-weiß-roten Wunder erleben. Und was jetzt an deutsche Mauern gepinselt wird, ist nicht letztes Lebenszeichen eines alten Nazismus‘, sondern erstes eines nagelneuen Nationalismus‘. Natürlich liegt es nicht in der Absicht der Bonner Politik, daß Hakenkreuze an Synagogen erscheinen. Aber von so was kommt so was, und wer entgegen der Weltwirklichkeit und in glatter Verleugnung dessen, daß wir den Zweiten Weltkrieg verloren haben, glaubt, die Uhr zurückstellen zu können, wer die Kommunisten innenpolitisch zu denselben Zwecken benützt, zu denen Hitler die Juden benützte, wer mit allen Mitteln einer raffinierten Propaganda ein neues Freund-Feind-Klima schafft, statt über den Kompromiß nachzudenken, und ihn zu propagieren, der einzig und allein uns einen längeren Frieden beschweren würde, der darf sich nicht wundern, daß die unerwünschtesten Folgen dieser Politik ihre ersten sind.
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