: Der Moralkodex der Besten
■ Über Sidney Lumets „Tödliche Fragen“
Seit mehr als dreißig Jahren gehört Sidney Lumet zu den unbestechlichsten Chronisten der US-Gegenwart. Seine mitunter hochbrisanten Themenfilme und zeitkritischen Thriller sind so kompromißlos wie es in Hollywood gerade eben möglich ist (meist dreht er freilich außerhalb der Filmmetropole: seine künstlerische Heimat ist New York). Er ist ein rechtschaffen liberaler Filmemacher, der einen uramerikanischen Bodensatz an Grundvertrauen in die Institutionen dennoch nie ganz verloren hat. Einer, der seinen Überzeugungen im steten kommerziellen Auf und Ab seiner Karriere treu geblieben ist.
Tödliche Fragen, sein sechsunddreißigster Film, knüpft thematisch an Serpico und Prince of the City an: Er ist eine Studie über den Ehrenkodex von Großstadtcops. Der irischstämmige Mike Brennan (Nick Nolte), ein Ausbund an Bigotterie und dünkelhaftem Rassismus, erschießt einen puertoricanischen Dealer und täuscht Notwehr vor. Mit der polizeiinternen Untersuchung des Falles wird der junge Anwalt Al Reilly (Timothy Hutton) betraut. Die Prämisse ist klar: Brennan ist unschuldig. Aber Reilly ist integer, und seine Recherchen ziehen weitere Kreise, als Brennan und seinen Vorgesetzten lieb sein kann. Er deckt eine Korruptionsaffäre von ungeahntem Ausmaß auf.
Gewählt hat Lumet die Perspektive des rechtschaffenen und ein bißchen blauäugigen Anwalts Reilly, der selbst einmal Streifenpolizist war, um den Moralkodex der „Besten“ (wie das New York Police Department seine Angehörigen nennt) zu hinterfragen. Er erzählt seine komplizierte Geschichte vermittels einer einfachen und bewährten Erzählkonvention: Er entdeckt uns das Labyrinth aus Korruption und sich überschneidender Loyalitäten als Desillusionierungsprozeß Reillys. Reilly muß bald feststellen, daß seine Moralvorstellungen nicht mehr greifen, daß er einem zwielichtigen Großdealer eher vertrauen muß als einem geachteten Polizisten. Und er muß entdecken, daß er selbst eine Achillesferse hat.
Lumet nutzt das Sujet mit stupender Konsequenz zu einer Bestandsaufnahme des alltäglichen amerikanischen Rassismus. Das Police Department schildert er als Mikrokosmos der multikulturellen US-Gesellschaft. Allerdings wird das Thema in den Dialogen eher ausgewälzt als aufgefächert.
Lumet selbst zeichnet diesmal für das Drehbuch verantwortlich (die Adaption eines Romans des puertoricanischen Bezirksstaatsanwalts Edwin Torres), und sein Szenarium läßt genau die Tugenden der Verdichtung und Ökonomie vermissen, die ihm ein professioneller Autor verliehen hätte. Lumets Dialoge sind redundant, so ist aus Tödliche Fragen ein redlicher, redseliger Film geworden.
Lumet ist auch nie ein bildmächtiger Visionär gewesen, allerdings war er immer mehr als ein inspirierter Handwerker. Er besitzt einen unbestechlichen Blick für die Auswahl der richtigen Einstellungsgröße, es gibt keine Totale oder Großaufnahme, die er verschwenden würde. Reillys erstes Verhör mit dem Großdealer ist ein Meisterstück der Rauminszenierung.
Darüberhinaus erweist sich Lumet einmal mehr als brillanter Schauspieler-Regisseur. Nick Noltes Präsenz dominiert den Film, auch wenn er in den Szenen nicht gegenwärtig ist. Als sein Gegenspieler beweist Timothy Hutton, daß er auch zehn Jahre nach seinem Debut in Redfords Eine ganz normale Familie immer noch glaubwürdig einen Jungen spielen kann, der noch viele Illusionen zu verlieren hat.
Gerhard Midding
Sidney Lumet: „Tödliche Fragen“, Darsteller: Nick Nolte, Timothy Hutton, Armand Assante, Jenny Lumet u.a., Kamera: Andrzej Bartkowiak, Musik: Ruben Blades, USA 1990, 132 Min.
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