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»Der Militarismus ist erledigt, es lebe die Republik«

■ Berlin ist in den Händen des Arbeiter- und Soldatenrates/ Allgemeine Verbrüderung von Matrosen, Soldaten und Arbeitern/ Zusammenstoß zwischen der Macht und den Massen in der »Maikäferkaserne«

Über die Vorgänge, die dem gestrigen 9. November ihr historisches Gepräge geben, berichtet das jetzt unter Leitung des Arbeiter- und Soldatenrates stehende Wolffsche Telegrafenbureau folgendes:

Berlin ist in den Händen des Arbeiter- und Soldatenrates. Morgens um 9 Uhr traten die Arbeiter der größten industriellen Betriebe in den Generalstreik. In Zügen, denen rote Fahnen vorangetragen wurden und an deren Spitze bewaffnete Soldaten aller Waffengattungen schritten, eilten sie von allen Vororten dem Innern der Stadt zu. [...] Eine allgemeine Verbrüderung der Matrosen, Soldaten und Arbeiter vollzog sich. Man drang in die Kasernen ein und fand auch hier begeisterte Aufnahme bei den Soldaten. [...] Soweit bis jetzt bekannt, kam es nur bei der Besetzung der sogenannten »Maikäferkaserne« zu einem Zusammenstoß zwischen den Massen und der bewaffneten Macht. Aber auch hier waren es nur zwei Offiziere, die schossen. Drei Tote und ein Verwundeter sind zu beklagen. Die Inbesitznahme der meisten öffentlichen Gebäude und Anstalten vollzog sich ohne Schwierigkeiten. Der Zug der streikenden Arbeiter der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie kam gegen 1/2 2 Uhr vor dem Reichstage an. Eine Abteilung Jäger besetzte die Freitreppe, vor der die Menge sich sammelte. Abgeordneter Scheidemann hielt eine Ansprache, der wir folgendes entnehmen.

Scheidemann vor dem Reichstag

Arbeiter und Soldaten! Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. (Hochrufe.) Das Alte, Morsche ist zusammengebrochen. Der Militarismus ist erledigt. Die Hohenzollern haben abgedankt. Es lebe die deutsche Republik! (Hochrufe.) Ebert bildet die neue Regierung. Alle sozialdemokratischen Richtungen werden ihr angehören. (Beifall) Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, diesen glänzenden Sieg, diesen vollen Sieg des deutschen Volkes nicht beschmutzen zu lassen. Deshalb bitte ich Sie, sorgen Sie dafür, daß keine Störung der Sicherheit eintritt. [...] Sorgen Sie für die Sicherheit des neuen deutschen Volksstaats, den wir errichten werden. Es lebe die deutsche Republik! (Hochrufe.)

Es sei noch folgendes Stimmungsbild verzeichnet:

Nach Bekanntwerden der Abdankung des Kaisers bot Berlin in den gestrigen Mittagsstunden ein ganz eigenartiges Straßenbild. Kein lauter Jubel, kein Hurrageschrei, keine übertriebenen Demonstrationen. Die Straßen Berlins durchzogen ununaufhörlich ungeheure Menschenmengen, Arbeiter aus den Fabriken, die fast alle bis mittags die Arbeit niedergelegt hatten. Den Zügen wurden rote Fahnen vorausgetragen; die Zugteilnehmer hatten rote Armbinden und rote Schleifen angelegt. Wie mit einem Zauberschlage waren die Polizeimannschaften verschwunden. Und trotzdem herrschte im ganzen und großen Ordnung. Zu Hunderten durchzogen Lastautomobile, gefüllt mit Soldaten, mit roten Fahnen geschmückt, die Stadt, vielfach begrüßt von der Menge und mit derselben sich verbrüdernd. Offizieren, Unteroffizieren und Feldwebeln, die sich widersetzen wollten, wurde Seitengewehr und Revolver abgenommen. Ebenso wurde die Schutzmannschaft teilweise entwaffnet

Sturm auf das Polizeipräsidium

Von einer großen Volksmenge wurde nachmittags der Sturm auf das Polizei-Präsidium begonnen. Vom Polizeipräsidenten war einige Zeit vorher ausgegeben worden, sämtliche Türen des Gebäudes zu schließen. Mit dem Gewehrkolben wurde an die Türen gehämmert. Nichts rührte sich. Aus der Menge fielen Rufe: »Schlagt die Fenster ein!« Im selben Augenblick klirrten die Scheiben und eine Reihe von Schüssen wurde gegen die Fenster abgegeben. Um Blutvergießen zu vermeiden, wurden schließlich die Türen geöffnet, und eine Abordnung Bewaffneter drang in das Gebäude. Das Gefängnis wurde geöffnet und 650 Gefangene befreit. Die Bewaffneten nahmen den Schutzleuten das Versprechen ab, keinen Widerstand zu leisten, und der Polizeipräsident verließ darauf mit den höheren Beamten das Gebäude, das von dem Anführer der Aufständischen besetzt wurde.

Karl Liebknecht im Schlosse

Berlin, 9. November. (Meldung des Arbeiter- und Solatenrates.) Karl Liebknecht hat die rote Fahne auf dem Schloß gehißt. Auch vom Brandenburger Tor weht die rote Flagge. Großer Jubel der Bevölkerung.

Die Rote Fahne,

10. November 1918

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