Der Mädchenmord von Stolzenau: Eskalierter Familienkonflikt

Der Leichnam von Souzan B. ist beerdigt worden. Warum ihr Vater die 13-Jährige auf offener Straße erschoss, ist noch immer unklar: Er ist weiterhin auf der Flucht.

Der Schock sitzt tief: Die Trauergemeinde folgt bei der Beerdigung dem Leichenwagen. Bild: dpa

HANNOVER taz | Blumenkränze und in buntes Papier gewickelte Sträuße liegen am Grab. Viele der Trauergäste tragen das Foto eines Mädchens auf Brusthöhe an ihre Jacken geheftet. Ein Beerdigungsritual der Religionsgemeinschaft der Jesiden, erklärt ein Mann dem Pressepulk, der die Beerdigung auf dem Stadtfriedhof Hannover-Lahe beobachtet.

Knapp 250 Menschen haben am Mittwoch in Hannover an der Beerdigung von Souzan B. teilgenommen. Das Mädchen war vor anderthalb Wochen im Alter von 13 Jahren von ihrem Vater auf offener Straße in Stolzenau (Kreis Nienburg) erschossen worden. Der Vater ist auf der Flucht.

Auf Wunsch der Mutter wird Souzan hier in Lahe beigesetzt: Hier gibt es ein Gräberfeld eigens für Jesiden, auf dem die Toten in Richtung der aufgehenden Sonne beerdigt werden können.

Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, deren Geschichte über 2.000 Jahre zurückreicht. Sie geht von einem Kastensystem aus. Unabhängig der Kaste gelten die gleichen Rechte, Hochzeiten allerdings sind nur in der gleichen oder nächstniedrigen Kaste erlaubt. Die Heirat mit Andersgläubigen ist untersagt.

800.000 Jesiden, alternativ auch Yeziden geschrieben, gibt es weltweit. Die meisten sind Kurden, die in der Türkei, Syrien, dem Irak, Armenien oder Georgien leben.

Verfolgt und diskriminiert werden Jesiden in vielen ihrer Herkunftsländer: weil sie Kurden sind oder weil sie in muslimisch geprägten Ländern als "ungläubig" gelten.

Deutschlands größte jesidische Gemeinde ist im niedersächsischen Celle, auch in Oldenburg und Hannover gibt es große Gemeinden.

Nach einem Gespräch in einer Beratungsstelle hatte Ali Askar Hasso Barakat seine Tochter umgebracht. Mehrere Schüsse trafen die 13-Jährige in Oberkörper und Kopf, als sie in das Auto ihrer Mutter stieg. Das Gespräch fand im Rahmen einer Mediation des Jugendamts statt, die das Mädchen und seine Eltern wieder zusammenführen sollte.

Seit einem halben Jahr lebte Souzan in einer Jugendhilfeeinrichtung. "Auf eigenen Wunsch und zunächst im Einvernehmen mit den Eltern", so Jugendamts-Sprecher Thorsten Rötschke. Er spricht von "Konflikten in der Familie", Anzeichen für eine gewalttätige Eskalation habe es aber nicht gegeben.

In der Jesidischen Gemeinschaft in Nienburg, wo Souzans Familie seit 2008 lebt, habe es keine Beschwerden gegeben, sagt am Rande der Beerdigung Sükrü Kaska vom Vorstand der Gemeinschaft. Regelmäßig sei die Familie sonntags erschienen - bis vor einem Jahr. Aufgefallen sei sie seitdem nicht, sagt Kaska, der nach eigenen Angaben derzeit Souzans Mutter betreut.

Nach der Tat war rasch die Rede vom Ehrenmord des irakischen Jesiden an seiner Tochter: Darüber spekulierte etwa die Hannoversche Allgemeine Zeitung nur wenige Stunden später. "Mord aus Ehre oder sonstigen Gründen", erklärte unverzüglich der Zentralrat der Jesiden in Deutschland, "ist mit unserer Religion nicht vereinbar."

Auch auf Souzans Beerdigung verurteilt der Vorsitzende des Zentralrats, Telim Tolan, die Tat. "Wir sind bestürzt, dass ein Vater seine Tochter ermordet", sagt er in Richtung der Trauergäste - und in Richtung der Presse. Gewalt in Familien sei kein spezifisch jesidisches Problem: Nicht umsonst, sagt Tolan, gebe es Gesetze gegen häusliche Gewalt.

Für die Polizei ist die Motivlage "völlig unklar", sagt Sprecher Axel Bergmann, schließlich habe man mit dem mutmaßlichen Täter nicht gesprochen - er ist seit anderthalb Wochen flüchtig. Eine Mordkommission mit 20 Beamten und speziellen Zielfahndern suche nach dem 35-Jährigen, international. Konkrete Hinweise, dass Barakat sich ins Ausland abgesetzt habe, gebe es nicht, so Bergmann.

Die Polizei geht von einer vorsätzlichen Tat aus, der Vater habe bei dem Gespräch eine Waffe bei sich gehabt und die Flucht offenbar geplant. Eine "heiße Spur" allerdings fehle, sagt Bergmann, trotz mittlerweile über 115 Hinweisen aus der Öffentlichkeit.

Spekuliert wird auch auf Souzans Beerdigung. Unter den Gästen kursiert ein Gerücht: das Mädchen sei schwanger gewesen. Das gut eine Woche alte Obduktionsergebnis dagegen schließt eine Schwangerschaft aus. Telim Tolan spricht von der "Eskalation eines Familienkonflikts", in dem der Vater "krankhafte Vorstellung hatte". Und er fordert "ein hartes Urteil mit hoher Strafe" für Souzans Vater. "Wir wollen", sagt er, "keine mildernden Umstände."

Eine Kurdische Fraueninitiative aus Hannover verteilt Handzettel: Der Mord an Souzan beruhe auf einer "rückständigen und patriarchalen Mentalität". Ihr Tod zeige, "dass es notwendig ist, diese Kulturirrtümer als das zu verstehen, was sie sind: Verbrechen gegen die Menschlichkeit."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.