: Der Krisenmigrant
SUCHE Eric Vázquez Jaenada ist weg aus Spanien. Hauptsache Arbeit! Also nach Deutschland. Wächst Europa durch Menschen wie ihn zusammen?
Milliarden Euro haben europäische Migranten 2011 in ihre jeweilige Heimat überwiesen. An dritter Stelle steht Spanien mit 7,3 Milliarden Quelle: Eurostat
32.000
Familien haben 2012 in Spanien ihr Zuhause verloren, weil sie Hypothekenkredite nicht mehr bedienen konnten Quelle: Spanische Zentralbank
5.000
Millionen Euro stellen die Bundesregierung und die Arbeitsagentur von 2013 bis 2016 zur Verfügung, um arbeitslose Jugendliche und junge Fachkräfte aus der EU in Deutschland zu fördern Quelle: Bundesarbeitsministerium
923,31
Milliarden Euro Schulden hatte der spanische Staat am Stichtag 31. März 2013 Quelle: Spanische Zentralbank
37.683
Menschen zogen 2012 von Spanien nach Deutschland
Quelle: Destatis
40
Prozent der Spanier gaben 2011 mehr als 40 Prozent ihres Haushaltseinkommens für die Wohnung aus, im Jahr 2007 waren es noch 22 Prozent Quelle: Beschäftigungs- und Sozialbericht für Europa
VON SVENJA BERGT (TEXT) UND DAVID OLIVEIRA (FOTOS)
Als in Barcelona der erste Septemberregen auf den staubigen Boden fällt, beginnt Eric Vázquez Jaenada gerade, seinen Koffer zu packen. Winterschuhe, warme Kleidung, das Diccionario Moderno Español-Alemán/Alemán-Español, Fotos von seiner Freundin und der Familie. Der Rollkoffer ist so groß wie eine Kommode, er hat ihn extra zum Auswandern gekauft.
In wenigen Tagen wird er ihn am Flughafen El Prat aufgeben. Der Koffer wird im Bauch eines Flugzeugs verschwinden und ihm dann in Berlin-Tegel auf einem Gepäckband entgegen fahren. In Deutschland. Einem Land, in dem er noch nie war, dessen Sprache er kaum versteht.
Er hatte sich für ein Stipendium beworben, es hätte ihn auch nach England oder Frankreich verschlagen können. „Eigentlich ist es Zufall, dass ich nach Deutschland gehe“, sagt Vázquez Jaenada. Er hat einen Intensivkurs absolviert, Deutsch, am Goethe-Institut in Barcelona.
In seiner Heimat, der Region Cataluña, ganz im Nordosten des Landes, findet der 27-Jährige keine Arbeit. Es gibt kaum Stellen für Geschichtslehrer wie ihn. Jetzt bringt ihn das europäische Comenius-Programm nach Deutschland. Hauptsache weg.
Vázquez Jaenada ist Teil einer ganzen Generation von jungen Menschen, die keine Arbeit finden und auch keine großen Hoffnungen haben, dass sich das in Zukunft ändern wird. Mehr als ein Viertel der Spanier ist arbeitslos, bei den unter 25-Jährigen ist es die Hälfte.
Jeden Monat stellt das spanische Arbeitsministerium die Zahlen vor, seit 2008 eine Zunahme nach der nächsten. Ende April der neueste Höchststand: Es sind nun mehr Menschen arbeitslos als je zuvor seit dem Ende der Franco-Diktatur 1975.
In Vázquez Jaenadas Familie sind es hundert Prozent. Seine Eltern haben keine Arbeit, auch seine Schwester nicht. Sie bekommt immerhin Arbeitslosengeld, wie sein Vater, der 30 Jahre in einer Fabrik gearbeitet hat.
Um 40 Milliarden Euro sollen 2013 Spaniens Ausgaben im Vergleich zum Vorjahr sinken – mit Kürzungen und Steuererhöhungen. Der Druck aus Deutschland, der Druck der EU, ist groß. Die Rente, die Vázquez Jaenadas Vater bald bekommt, ist auch gekürzt. Seine Mutter geht putzen, so kommt etwas Geld rein.
Vázquez Jaenada sitzt in der Caféteria des Goethe-Instituts und blickt in seine Kaffeetasse, dreht den Henkel von links nach rechts und wieder nach links, als wäre darin die Antwort verborgen, die Perspektive, nach der er in Spanien vergeblich sucht. „Ich hoffe, dass es in Deutschland ein langer Aufenthalt wird. Hier habe ich keine Zukunft.“
Im vergangenen Jahr sind 45 Prozent mehr Spanier nach Deutschland ausgewandert als im Vorjahr – so viel mehr wie aus keinem anderen Land. Griechenland, Portugal, Italien schaffen es nur auf Platz zwei bis vier. Seit 2009 messen die Statistiker größere Wanderungsströme in diese Richtung als von Deutschland nach Spanien.
100.000 Ingenieure und Fachkräfte würden in Deutschland dringend gesucht, sagte die Kanzlerin bei einem Besuch in Madrid vor zwei Jahren. Auch wenn die Zahl mittlerweile nach unten korrigiert wurde – der Ruf kam an. Geschichts- und Spanischlehrer hatte sie mit Fachkräften wohl nicht gemeint. Es wird für Vázquez Jaenada nicht einfach, in Deutschland einen Job zu finden. Aber schwieriger als in Spanien kann es kaum werden.
„Die Einwanderung führt zu einer Re-Europäisierung“, sagt Dietrich Thränhardt. Er ist Migrationsforscher. Mittlerweile seien es mehr Menschen, die innerhalb Europas umherwandern, als solche, die von außerhalb kommen. Das sei in den 1970er Jahren schon mal so gewesen, deshalb das „Re“. Die Zuwanderer würden Bindungen in ihre neue Heimat entwickeln und häufig bleiben, obwohl sie eigentlich wieder zurückkehren wollten.
So sehr die Krise Europa in Nord und Süd spaltet, so sehr scheint es durch Menschen wie Vázquez Jaenada auch näher zusammenzurücken.
Wissenschaftler betrachten Zahlen, Wanderungsströme und Migrationswellen. Sie verlaufen von einer in die andere Richtung, schwellen an und ab oder stagnieren. Und werden eingezeichnet in Diagramme und Tabellen, die Existenzen wie die von Vázquez Jaenada auswerten und daraus Schlüsse ziehen über den Zustand Europas. Wenn er nach Deutschland kommt, wird er im Jahr darauf Teil einer Zahl in der Tabelle „Wanderungen über die Grenzen Deutschlands nach Herkunfts- bzw. Zielgebieten“ des Statistischen Bundesamts.
Wächst wirklich etwas zusammen, weil in Europa alle in Richtung Arbeit wandern? Wird Europa auf diese Art konkret?
Als in Madrid die großen Proteste gegen das neueste Sparpaket stattfinden, als Menschen zusammengeschlagen werden, landet Eric Vázquez Jaenada mit seinem Koffer in Berlin-Tegel. Hundert Euro musste er für das Übergepäck zahlen. Das Wörterbuch, die spanische Grammatik – es war wohl doch etwas zu viel.
Vázquez Jaenada war gerade drei Monate alt, als das erste Schengener Abkommen, das die Personenkontrollen innerhalb Europas abbaut, unterzeichnet wurde. Niemand will jetzt seine Papiere sehen, wenn er durch Europa reist. Er muss andere Grenzen überwinden. Grenzen, auf die ihn nichts vorbereiten konnte. Kein Sprachkurs, kein Bewerbungstraining, keine Website des Auswärtigen Amts, keine Straßenansicht einer Stadt.
Ende September 2012. Eric Vázquez Jaenada ist eine gute Woche in Berlin. Es ist ein sonniger Herbsttag, er zieht seine dunkle Cordjacke enger zusammen. „Es ist halt wie der Winter in Spanien“, sagt er.
Herr Vázquez Jaenada, was ist für Sie Europa?
Vázquez Jaenada läuft über die Friedrichstraße, einen der wenigen Orte, die er schon kennt, als er plötzlich am Straßenrand stehen bleibt. Wie kommt er jetzt rüber, über diverse Spuren, auf denen sich Taxis, Straßenbahnen, Touristengruppen in die Quere kommen? Wo sind die Zebrastreifen? In Spanien sind sie alle paar Meter aufgemalt.
Für den Anfang ist er in einer Familie untergebracht, bei einer Lehrerin der Schule, an der auch er unterrichten soll. Abendessen gibt es um sechs und abends um neun ist er wieder hungrig.
Am schwierigsten aber ist die Sprache. Deutsch, überall. In der Bibliothek, am Fahrkartenschalter und im Bürgeramt.
Von der Freizügigkeit innerhalb Europas spürt er wenig. Wie soll er sich als EU-Bürger anmelden, wenn weder die Formulare übersetzt sind noch die Mitarbeiter Fremdsprachen sprechen? Deutschland ist in diesen Momenten so weit weg wie ein ferner Kontinent. „Ich höre immer nur Problem, Problem, Problem“, sagt Vázquez Jaenada. Er klingt nicht resigniert, eher erstaunt. Deutschland versagt bei einer solchen Kleinigkeit?
Herr Vázquez Jaenada, was ist für Sie Europa?
Es ist Anfang Oktober, er sitzt in einem Café im Zentrum Berlins. Um ihn herum Menschen im Business-Outfit, die Salate mit Couscous essen. Mittagspause. Die drei Damen hinter der Theke sprechen sicher Englisch, doch Vázquez Jaenada will es auf Deutsch versuchen. Milchkaffee. Die Espressomaschine faucht, die Bedienung versteht ihn nicht. Milchkaffee!
Europa? Er erzählt. Über die Anfänge der Europäischen Union, den Beitritt Spaniens in den 1980er Jahren, etwas mehr als zehn Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur. Klar, er hat Geschichte studiert. Europa, das ist immer noch etwas, das man aus Büchern lernen kann.
Aber persönlich? Er schüttelt den Kopf. „Ich fühle mich schon als Europäer?“ Mit Fragezeichen. Und was macht das aus? Diesmal ein Fragezeichen in seinen Augen. „Wenn man sich integrieren will, klappt das auch.“
Vázquez Jaenada ist ein ruhiger Typ. Er hat Geschichte studiert, mit Pädagogik-Master, er wollte unterrichten. Nach dem Abschluss begann er, Bewerbungen zu schreiben. Erst eine, zwei, dann fünf, zehn, alle persönlich vorbeigebracht, und als er bei hundert war, dachte er, irgendetwas läuft hier falsch.
Zweimal haben sie ihn eingeladen an Schulen außerhalb der Stadt. Er saß vor Stapeln von Bewerbungsmappen, irgendwo steckte auch seine. Keine Chance. Wenn er erzählt, dass im vergangenen Jahr in Madrid gerade mal sechs neue Geschichtslehrer gesucht wurden, wird seine Stimme doch laut. Eine wütende Hilflosigkeit. Wut gegenüber denen, die Schuld sind an dieser Krise, und denen, die nicht vermögen, sie zu lösen. Die nur kürzen und kürzen.
Es ist nicht so, dass Vázquez Jaenada es nicht auf anderen Wegen probiert hätte. Er hat innerhalb seiner Branche gesucht, dann außerhalb, bevor er am Empfang in einem Schwimmbad anfing – ein Sommerjob. Da wurde ihm klar, dass er den Rest des Jahres arbeitslos sein wird. In Spanien sucht jeder Vierte Arbeit. In Deutschland ist es nicht einmal jeder Zehnte. Wie wäre es wohl, in einem Vorstellungsgespräch zu sitzen, in dem man nicht als Bittsteller auftritt, sondern gefragt ist?
Am 10. Oktober 2012 gibt die Ratingagentur Standard & Poor’s Spanien auf. Sie stuft das Land um zwei Stufen herunter, spanische Anleihen sind nun nicht viel mehr wert als Ramsch.
In Berlin kämpft Vázquez Jaenada gegen die Einsamkeit. Die Familie, bei der er lebt, spricht zwar Englisch, doch das Familienleben läuft auf Deutsch. Vázquez Jaenadas Freunde, seine Familie, 1.500 Kilometer entfernt, ihm bleibt nur telefonieren. Jeden Abend spricht er eine Stunde mit seiner Freundin über Skype. Doch wenn er das rote Notebook zuklappt, ist er wieder in seinem Zimmer, allein.
„Es ist, als würde ich zwar mit den anderen leben, aber doch irgendwie abseits“, sagt er. Mit der Wohnungssuche geht es nicht voran. Man sollte meinen, Berlin ist eine europäische Stadt. Auch Vázquez Jaenada, treppab, treppauf laufend und Klingelschilder studierend, sieht das so.
Aber alle aufgehängten Zettel, alle E-Mails und beantworteten Anzeigen bringen ihm kein WG-Zimmer. Meistens bekommt er schon dann keinen Rückruf, wenn klar ist, dass er vielleicht nur für ein halbes Jahr bleibt. Zwei-, dreimal geht er auf eine Besichtigung, füllt Bewerbungsbögen aus, eher lustlos. 400 Euro für acht Quadratmeter?
Im November kommt die erste Kältewelle.
In Barcelona findet ein Generalstreik statt.
Eric Vázquez Jaenada findet endlich ein Zimmer, in einem Wohnheim. Am letzten Wochenende im November zieht er um.
Er ist jetzt weit weg von seiner Heimat. In einem Zimmer, das gerade so groß ist, dass ein Bett quer vor das Fenster passt. Mit einer kleinen Küche in der Ecke. Den hellen Holztisch hat er mitten ins Zimmer gerückt, abends bereitet er da den Unterricht vor. Die Enge, die Einsamkeit: Nichts im Vergleich dazu, dass er in Spanien ohne Zukunft ist.
Da hilft es auch nichts, wenn die Europäische Zentralbank ausrechnet, dass die Deutschen gar nicht so reich seien und die Bewohner Spaniens und Zyperns angeblich schon. Es ist eine seltsame Mischung aus Egoismus und Neid, die in der Debatte um Staatshilfen, Eurorettung und Hilfspakete mitschwingt – und die Situation vor Ort ignoriert. Allein im vergangenen Jahr wurden zehntausende Familien in Spanien zwangsgeräumt, der Staat gibt mehr Geld für Zinsen aus als für alles andere.
Es gibt Momente, in denen Vázquez Jaenada Deutschland näher kommt und in denen er sogar etwas von sich, von Spanien mitbringen darf. In denen er spürt, dass es klappen könnte. Nicht nur mit der Arbeitssuche, sondern auch mit dem Ankommen als Gefühl. Die Dienstage zum Beispiel.
Er hat sich Hausschuhe besorgt, rot bestickt
Es ist Dezember, kurz vor Weihnachten, vor drei Monaten hat er Barcelona verlassen. Und jetzt liegt das Gefühl, dazuzugehören, hinter einer schlichten weißen Haustür im kleinen Ort Woltersdorf bei Berlin. Draußen rauschen die Autos vorbei. Drinnen, kaum dass Vázquez Jaenada die Tür geöffnet hat, fällt ihm ein kleiner Junge um den Hals. „Eric, was machen wir heute bei Spanisch?“
Vázquez Jaenada zieht sich die Hausschuhe an, die er sich extra besorgt hat, grau, rot bestickt, weil diese seltsamen Deutschen immer die Schuhe ausziehen.
Einmal in der Woche ist Vázquez Jaenada hier im Kindergarten, für ein paar Stunden. Er bringt den Vier- bis Sechsjährigen ein paar spanische Wörter bei, hilft beim Ausschneiden und Backen und geht später noch raus zum Fußball spielen.
„Buenos días!“, ruft er. „Buenos días!“, rufen sie zurück. Vázquez Jaenada packt bunte, selbst gemalte Bilder aus einer Mappe, die Zahlen eins, zwei, drei – uno, dos, tres –, die sie heute lernen sollen. Er hat den Zahlen Augen, Nase und Hasenzähne gegeben, so dass sie lebendig aussehen. Er lacht, die Kinder lachen zurück.
Anfang Februar reist eine spanische Delegation nach Berlin. Der Ministerpräsident des konservativen Partido Popular, Mariano Rajoy, spricht mit Kanzlerin Merkel, über den bevorstehenden Haushaltsgipfel. Rajoy steht in Spanien unter Druck, es gibt Vorwürfe, er habe jahrelang Schwarzgelder erhalten.
Rajoy widerspricht. Merkel lobt Spaniens Reformen und Vázquez Jaenada steht auf einem S-Bahnhof kurz vor der Stadtgrenze, haucht Atemwolken in die Luft und schüttelt den Kopf. „Wenn die ganzen Korrupten in Spanien eine Partei gründen würden, wären sie aus dem Stand heraus drittstärkste Kraft.“
Was bitte ist eine Bedarfsgemeinschaft?
Abends sitzt Vázquez Jaenada an seinem Holztisch und paukt deutsche Grammatik. Ich bin gegangen, du bist gegangen, er/sie/es ist gegangen. Er feiert seinen 28. Geburtstag. Zwei wirklich gute Freunde hat er gefunden: Einen Nigerianer im Sprachkurs und einen Bayern, Erzieher im Kindergarten. Mit der spanischen Community in der Stadt hat er nichts zu tun. „Ich habe Migranten kennengelernt, die seit über einem Jahr hier leben und nicht ein Wort Deutsch sprechen.“ Das will er nicht. Er will sich öffnen, dazugehören.
Zum Deutschuntericht fährt Vázquez Jaenada nach Friedrichshain, eines dieser Viertel, in denen man ständig Spanisch auf der Straße hört. Sogar Catalán, die Sprache der Region, aus der er kommt. Hinter der Tür im zweiten Stock ist die Herkunft der Schüler an den dicken Wörterbüchern auf den Tischen zu erkennen: Arabisch-Deutsch, Japanisch-Deutsch, Spanisch-Deutsch. 15 Schüler sind in seiner Klasse, vier davon aus Spanien.
Migrationsforscher Thränhardt findet die Abwanderung aus Spanien trotzdem noch „bemerkenswert gering, wenn man sich das Ausmaß der Wirtschaftskrise anschaut“. Er hat auch eine Erklärung dafür. In der ist Vázquez Jaenada mit seinem Schwimmbadjob ein typischer Fall. „Viele Spanier versuchen es erst einmal im Niedriglohnsektor“, sagt Thränhardt. Doch auch der bietet immer weniger Arbeit.
März 2013. Noch ein EU-Gipfel. Dieses Mal ist auch die Jugendarbeitslosigkeit Thema. Sechs Milliarden Euro wollten die Staats- und Regierungschefs bereitstellen. Ein guter Teil davon dürfte nach Spanien gehen, wo jeder Zweite unter 25 ohne Job ist. Spanien und Griechenland sind das eine Ende der Skala. Das andere Ende ist Deutschland. 7,6 Prozent Arbeitslose unter jungen Menschen sind es im März.
Die Debatte hatte zuletzt merkwürdige Züge angenommen. Ein 94-jähriger Altkanzler, der ein Programm fordert, um den Jugendlichen zu helfen. Ökonomen, denen vorgestern aufgefallen zu sein scheint, dass nicht nur Banken Geld brauchen, sondern auch Menschen, ja, auch junge Menschen. Also mal Kredite verteilen. Als ob Kredite, die die Europäische Investitionsbank an Unternehmen vergeben soll, das Problem des kaum vorhandenen Kündigungsschutzes für junge spanische Arbeitnehmer lösen könnten. Als ob Betriebe, die seit Monaten kaum Aufträge bekommen, auf einmal ausbilden würden.
Herr Vázquez Jaenada, fühlen Sie sich in Berlin zu Hause?
Er nickt. Und erzählt dann, dass es vieles gibt, was ihn immer noch erstaunt. Die zahlreichen Narben der Stadt aus dem Zweiten Weltkrieg. Der hohe Anteil an Osteuropäern. Die Gerüche, von Currywurst bis Asia-Imbiss. Leute, die in der Öffentlichkeit Bier trinken. Alles scheint so freiheitlich, niemand sagt etwas, wenn jemand mitten auf der Straße ein Barbecue vorbereitet.
Als es langsam Frühling wird und der letzte Schnee tatsächlich schmilzt, sitzt Vázquez Jaenada im Jobcenter Berlin-Wilmersdorf. Blau melierter Boden, blaue Sitze, blauer Mülleimer. Ein Eichhörnchen vor dem Fenster hüpft von Ast zu Ast. Doch Vázquez Jaenada blickt auf einen Stapel Papiere. Er hat seinen Lebenslauf ins Deutsche übersetzt und bei bilingualen Kindergärten und Schulen abgegeben – ohne Erfolg. Nun will er Unterstützung bei der Jobsuche bekommen und, falls das nichts bringt, Arbeitslosengeld beantragen.
Anlage KDU, Kästchen zum Ankreuzen. Was bitte ist eine Bedarfsgemeinschaft?
Das Zimmer der Sachbearbeiterin sieht aus, als würde sie darin wohnen. Grünpflanzen vor der Fensterfront, auf dem Tisch gluckert ein Zimmerspringbrunnen. Vorne: graue Aktenschränke. Aus einem davon kommt auch Vázquez Jaenadas Mappe.
Das Problem: Er hat fast nichts von dem dabei, was die Sachbearbeiterin haben will. Keine Kontoauszüge, keinen Versicherungsnachweis, keine Gehaltsabrechnung. Sie nimmt es mit einer Art von verzweifeltem Humor. „Aktien, Wertpapiere, Geldgeschenke, Gemälde?“, fragt sie. „Nein, nein, nein“, sagt Vázquez Jaenada, beide lachen.
Sie macht ihm eine Liste mit rosa markierten Punkten, die er abarbeiten soll, und zeigt ihm den blauen Briefkasten um die Ecke, in den er die Dokumente werfen kann.
Als er nach einer Stunde wieder auf der Straße steht, ist Vázquez Jaenada erleichtert. Es wird Frühling, er wird sein Deutsch-Examen bestehen, er bekommt Hilfe bei der Jobsuche.
Es scheint, als wäre das mit dem Zusammenwachsen doch nicht so schwer. Sicher, es braucht Zeit. Wer erwartet, sich nach zwei Monaten in der neuen Heimat nicht zu verlaufen und den Busfahrer problemlos zu verstehen? Aber auf einmal sind die Grenzen im Kopf nicht mehr da. Oder egal. Oder es gibt so viel Neues zu sehen und zu erleben, dass Grenzen nur behindern.
In Spanien meldet die Ärztevereinigung, dass der Konsum von Antidepressiva steigt. Psychologen sprechen davon, dass gerade die junge Generation das Vertrauen verliert, in die Parteien, die Gesellschaft. Das Vertrauen in die Zukunft.
Vázquez Jaenada hat wieder Vertrauen. Für einen Moment zumindest.
Dann kommt die Absage vom Jobcenter. Keine Leistungen. Er bekam vorher ein Stipendium, nur mit selbst verdientem Geld kann es finanzielle Hilfe geben.
Jetzt beginnt das, was Vázquez Jaenada auf Spanisch so ausdrückt: Der Fisch, der seinen Schwanz auffrisst. Ohne Geld vom Jobcenter keine Krankenkasse. Ohne Krankenkasse keine Arbeit. Ohne Arbeit keine Krankenkasse.
Dass Vázquez Jaenada dennoch seit Mitte Mai an den Wochenenden um fünf Uhr aufsteht, in ein Krankenhaus fährt, um vier Stunden lang Essen auszuliefern und schmutzige Laken einzusammeln, verdankt er einem Vorstellungsgespräch, wie er es immer wollte. Er ging hin, sie wollten ihn – und fragten nur ungläubig, ob das wirklich in Ordnung sei, am Wochenende so früh aufzustehen.
Auch eine neue Wohnung hat er gefunden, ein Zimmer nur, aber immerhin. Seine Freundin kommt für den Sommer mit einem Physikstipendium nach Berlin, sie wollen zusammenwohnen.
Wenn er zur Arbeit fährt, sieht er Menschen, die auf dem Weg nach Hause in die S-Bahn torkeln. Partytouristen. Touristen. Das ist er nicht. Er lebt hier.
■ Svenja Bergt ist taz-Wirtschaftsredakteurin. Sie würde nicht nach Deutschland auswandern wollen