: Der Kanzler verzeiht
Die Bonner Führungscrew bewältigt die DDR-Vergangenheit ■ K O M M E N T A R E
Es gibt nicht viele Politiker in der Welt, die ihre Fehler beharrlich ungestraft wiederholen dürfen. Helmut Kohl, der Boris Becker der deutschen Nachkriegspolitik, gehört zu ihnen und darf es. Nur wenige Tage nach dem Überraschungssieg bei den offenen DDR-Meisterschaften folgt der Kanzler dem -amtsminister und beweist vor laufenden Kameras sein Talent für klassische Fettnapftritte.
Nach Gorbatschow-Goebbels und der Gnade der späten Geburt, nun die Absolution für ehemalige Staatssicherheitsmitarbeiter. Nicht etwa, daß man dem schwergewichtigem Pfälzer und wohlerzogenem Katholiken ehrbare Motive absprechen sollte, aber schließlich besitzt der Schnur-gebrannte Kanzler nun wiederum auch nicht die Naivität einer Schlangeneier ausbrütenden Henne.
Verständlich also, daß er, gestützt auf ein mehr als sattes Wahlergebnis, kaum Interesse daran hat unter seinen Schafen die schwarzen aufgelistet zu finden. Ohnehin hat diese christdemokratische Staffage im Osten nur Übergangscharakter. Doch wie Kohl argumentiert, verrät ihn als aller Deutschen Kanzler. Nachsicht fordert er, Vergebung für die „Nicht-Helden“ - und er weiß wovon er spricht. „Wir haben das III. Reich erlebt und was waren die zwölf Jahre gemessen an den vierzig Jahren danach.“ Kohls Gabe für treffende historische Vergleiche wurde schon oft international gewürdigt, vor allem dann, wenn es ihm gelang das übelste Kapitel deutscher Geschichte durch kühle Analogien zu verwässern.
Ist es bei Schäuble eher taktisches Kalkül, so ist es beim Kanzler der Versuch, die Gunst der Stunde zu nutzen, und die Annalen deutscher Geschichte zu säubern. Die lasche Entnazifizierung im Westen erfährt so ihre nachträgliche Rechtfertigung in der Generalamnestie für Stasi-Mitarbeiter im Osten. Doch wenn überhaupt, dann kann nicht der Kanzler, kann nicht der Papst, sondern können nur die Opfer Absolution erteilen.
Andre Meier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen