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■  Der Kampf um die Nachfolge von Russlands Präsident Boris Jelzin ist voll entbrannt. Moskaus Bürgermeister Luschkow gründet Parteienbündnis und will auch Ex-Premier Primakow mit ins Boot holen. Und der wird bei der Bevölkerung von Tag zu Tag beliebterFell verteilen, bevor der Bär tot ist

Politische Ereignisse gehören in Russland seit langem nicht mehr zu den Dingen, die bei den Bürgern positive Emotionen oder gar wohlige Empfindungen wachrufen. Eine überraschende Ausnahme machte dieser Tage die Fusion der Wahlblöcke „Vaterland“ und „Ganz Russland“, die zu den Parlamentswahlen im Dezember als eine Partei antreten werden. Sogar die in Russland von Jung und Alt vergötterte Schlagerdiva, Alla Pugatschewa, nahm sich des Themas öffentlich an und feierte das freudige Ereignis als „einen Festtag für die Seele“. Das Pathos sagt es schon: Hoffnung auf Stabilität und Verlangen nach halbwegs geordneten Verhältnissen begleiten den parteipolitischen Schöpfungsakt.

Treibende Kraft der Vereinigung ist Moskaus populärer Bürgermeister Juri Luschkow. Im Dezember vergangenen Jahres gründete er den Wahlblock „Otetschestwo“ – „Vaterland“, dem sich rund ein Dutzend Splitterparteien und Bewegungen anschlossen. Über nennenswertes Gewicht auch als Einzelorganisation verfügten unter den Mitgliedern des Bündnisses indes nur die „Frauen Russlands“ . Der nun hinzugewonnene Partner „Ganz Russland“ wird von dem Präsidenten der Republik Tatarstan Mintimer Schajmijew geführt, der eine Reihe einflussreicher Gouverneure aus den Regionen hinter sich versammeln konnte.

Bei dem neuen Bündnis handelt es sich nicht um eine Partei im klassischen Sinne, die sich auf eine bestimmte Wählerklientel berufen kann. Bislang spielten auch Inhalte keine besondere Rolle. Schajmijew und Luschkow gelten unterdessen als nüchterne Pragmatiker, die trotz der schwierigen wirtschaftlichen Gesamtlage in Moskau und Tatarstan einen bescheidenen Aufschwung bewerkstelligen konnten.

Moskaus Bürger dankten es ihrem Stadtvater, indem sie ihn mit einem 90-prozentigen Ergebnis 1996 ein zweites Mal im Amt bestätigten. Beider Erfolg stützt sich unterdessen nicht auf ihre Qualitäten als demokratische Politiker einer neuen Generation. Ihr Regierungsstil ähnelt dem aufgeklärter Monarchen. Das dürfte bei einem großen Teil der Wähler, die das russische Chaos mit Demokratie schlechthin gleichsetzen, auf breite Sympathie stoßen.

Darüber hinaus verfügen die Regionalchefs nicht nur über einflussreiche Medien in ihren Fürstentümern, sie kooperieren auch auf engste mit dem lokalen Geldadel. Das sind alles in allem günstige Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wahlkampf.

Mintimer Schajmijew rechnet bei den Parlamentswahlen mit mindestens der Hälfte aller Sitze in der Duma: „Sonst macht der Lärm doch keinen Sinn“, meinte der Tatare zuversichtlich. Nach jüngsten Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes VZIOM kurz vor der Vereinigung könnten „Vaterland“ mit 13 Prozent und „Ganz Russland“ mit einem Prozent der Stimmen bei den Wahlen rechnen.

Den Schlüssel zum überragenden Erfolg hält unterdessen der im Mai von Präsident Boris Jelzin aufs Altenteil geschickte ehemalige Premierminister Jewgeni Primakow fest in der Hand. Schließt sich Primakow, der den Ruf einer Integrationsfigur genießt und vor einem Jahr als Kompromisskandidat des Kreml und der kommunistischen Opposition ins Amt des Regierungschefs gelangte, der neuen Bewegung an, schnellt die Zustimmung für das Wahlbündnis gleich auf 28 Prozent hoch. Seit Wochen antichambriert Luschkow daher im Umfeld des Altpremiers, der sich vortrefflich auf die Mechanismen einer „passiven Wahlkampagne“ versteht. Statt öffentlich an Popularität einzubüßen oder langsam in Vergessenheit zu geraten, hat Primakow im Juli sogar noch an Zuspruch hinzugewonnen. 19 Prozent der Wähler sähen ihn am liebsten als Nachfolger von Präsident Boris Jelzin.

Noch hat der 69-jährige ehemalige Geheimdienstchef seine Teilnahme offiziell nicht bestätigt. Er begrüßte die Fusion lediglich als eine „außerordentlich positive“ Entwicklung und deutete an, er könne sich vorstellen, eine breite Koalition von Gouverneuren und anderen regionalen Kräften anzuführen.

Inzwischen zweifelt kaum noch jemand daran, dass Primakow den Antrag Luschkows auch annimmt. Denn ohne sein Mitwirken wäre die Koalition gar nicht erst zustande gekommen. Schajmijew war erst dazu bereit, nachdem Luschkow zugesichert hatte, Primakow die Führungsrolle im Bündnis zuzusichern. Der ambitionierte Bürgermeister, der seit Monaten auf die Thronfolge im Kreml schielt, gab klein bei und beteuerte öffentlich, jeden Platz auf der „Blockliste zu räumen, um nicht zu behindern oder ein unüberwindbares Hemmnis zu sein“.

Die Beliebtheit des mürrischen Primakow ist ein bemerkenswertes Phänomen. Durch vorwärtsweisende politische Entscheidungen hat er sich während seiner Amtszeit als Premier nicht hervortun können. Er wirkte lediglich als gemessener Verwalter des politischen Stillstands. Den Bürgern suggerierte er Ruhe und Stabilität in turbulenten Zeiten und neutralisierte ihre Frustration durch die nostalgische Erscheinung eines alten Apparatschiks, der vermeintlich besseren Zeitläuften entstiegen war.

Die Kreml-Administration, so scheint es, hat unterdessen eine weitere Bataille verloren. Boris Jelzin sieht in Luschkow seinen ärgsten Widersacher, zu dem sich nun auch noch der wenig geliebte Primakow gesellt. Bis zuletzt hatte der Kreml versucht, Premierminister Sergej Stepaschin als Spitzenkandidaten des neuen Bündnisses zu lancieren. Es gilt als ausgemacht, dass der Gewinner bei den Dumawahlen die besten Ausgangsbedingungen besitzt, um auch aus den Präsidentschaftswahlen, die im Sommer des kommenden Jahres stattfinden sollen, als Sieger hervorzugehen.

Seit Wochen schießt die Umgebung des Präsidenten gegen den Finanz- und Medienmogul der Most-Gruppe Wladimir Gussinsky, der dem Haus Luschkow sehr nahe steht. Erst am vergangenen Dienstag feuerte Jelzin seinen Mitarbeiter Sergej Swerjew, der enge Beziehungen zur Most-Gruppe unterhält. Swerjew warf dem Kreml vor, massiv in die Pressefreiheit einzugreifen und Pläne zu schmieden, die Wahlen auszusetzen. Der Grund: Sollte jemand als neuer Präsident in den Kreml einziehen, der dem herrschenden Patriarchen nicht wohlgesinnt ist, fürchtet Jelzin um das leibliche und materielle Wohl seiner Familie. Primakows Aufgabe wird es nunmehr sein, dem Kremlchef die Ängste zu nehmen und Garantien zu geben, um dessen geordneten Rückzug zu gewährleisten.

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