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Archiv-Artikel

Der „Homo precarius“ lebt mit der Unsicherheit. Aber wie? Heute: Erhard Strobel, 60, Bauarbeiter „Meinem Enkel schneide ich ein Ohr ab, wenn er jemals sagt: Opa, ich will auf den Bau“

Fallen lassen ist tabu auf dem Bau. Als Erhard Strobel einen Stahlträger nicht mehr halten konnte, weil das Knie schmerzte wie verrückt, als er dem Kollegen zurufen musste, „Dicker, wirf weg!“, war Schluss. Strobel, 60 Jahre, Zimmermann und Spezialist für Betonverschalungen, war nach Jahrzehnten auf dem Bau zum Sicherheitsrisiko geworden. Er ging zur Ärztin, im Dezember 2005 kam die Diagnose Meniskusschaden. Kurz vor Weihnachten hatte Strobel die Kündigung im Briefkasten.

Krank werden ist tabu auf dem Bau. Der Arbeiter mit Halbglatze, kantigem Kinn und handlanger Narbe am rechten Ellenbogen kann davon erzählen, wie sich die Branche gewandelt hat. Wie seine Kolonne während des Baubooms in den 90er-Jahren für den Mindestlohn nie angetreten wäre, während die Jungen aus Kroatien oder Russland heute für 4, 5 Euro die Stunde schuften, manchmal über 60 Stunden pro Woche. „Für solche Löhne kann ich nicht arbeiten. Dann müsste ich meine Familie erschlagen.“

Strobel kennt die Tricks der Subunternehmer. Sie umgehen den Mindestlohn – 12,30 Euro die Stunde für Facharbeiter, 9,90 Euro für Ungelernte –, indem sie ihre Leute 8 Stunden bezahlen, aber 14 arbeiten lassen. Sie werfen die Arbeiter im Herbst raus, und stellen sie erst im Frühjahr wieder ein. Sie vermieten Werkzeug, Sicherheitskleidung oder Schlafcontainer überteuert.

Selbst Jobs, die seriös klingen, sind es oft nicht. Strobels Kolonne fing 2003 auf der Baustelle Bahnhof Papestraße an. Als Generalunternehmer war Walter Bau eingestiegen, einst der größte deutsche Baukonzern. Der Subunternehmer bat Strobel und seine Leute, zunächst zwei Monate lang ohne Lohn zu arbeiten. Walter Bau wolle nach 20 Tagen die Leistung beurteilen und brauche dann 40 Tage, um Geld zu überweisen, hieß es.

Als am sechsten Tag des dritten Monats immer noch kein Gehalt da war, legten Strobel und die anderen die Arbeit nieder. Mittags tauchte ein Walter-Bau-Mann auf, besichtigte die Baustelle, am gleichen Nachmittag entzog die Großfirma dem Subunternehmer den Auftrag. Weder er noch Walter Bau überwiesen den Arbeitern auch nur einen Euro. „Das ist Alltag. Manche Subfirmen gründen sich mit der festen Absicht, nach drei Monaten vom Markt zu verschwinden.“

Wenn die Krankschreibung Strobels ausläuft, bekommt er noch 105 Tage Arbeitslosengeld. Dann käme Hartz IV. Aber seine Kolonne hat neulich in München einen guten Job auf einer Großbaustelle bekommen. Die Schlafcontainer sind gut und günstig, je acht Arbeiter bekommen einen VW-Bus mit Tankkarte gestellt. „Sobald ich wieder mitarbeiten kann, ziehe ich ihnen nach“, sagt Strobel.

Zu sagen, der kranke Bauarbeiter lebe in prekären Verhältnissen, wäre deshalb übertrieben. Er ist 10, 20 Jahre an der Unsicherheit vorbeigeschrammt. Für ihn, der ehrenamtlich für die Baugewerkschaft arbeitet, der ein Haus besitzt, geht es darum, die volle Rente zu retten. Aber die jungen Kollegen, die hätten es schwer, sagt er. „Meinem Enkel schneide ich ein Ohr ab, wenn er jemals sagt: Opa, ich will auf den Bau.“

ULRICH SCHULTE