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■ Der Giftgasanschlag in JapanTokio am Tag danach

Manche Tokioter mochten von Glück sagen, daß ihnen am Dienstag zum Frühlingsbeginn ein Feiertag beschert war. So konnten einige Millionen U-Bahn- Pendler gestern noch vermeiden, was heute wieder unumgänglich sein wird: die Fahrt zum Arbeitsplatz durch den stickigen Keller der Metropole. Der Gedanke an die Giftgasanschläge vom Montag wird sich dann nicht mehr vermeiden lassen. Angesichts von acht Toten und mehr als 5.000 U-Bahn-FahrerInnen, die sich aufgrund von Vergiftungen nach dem Attentat medizinisch behandeln lassen mußten, ist die pure Verdrängung unmöglich. Ab jetzt fährt die Angst in jeder U-Bahn mit.

Dies um so mehr, als von den Tätern bislang jede Spur fehlt, die Untat sich also jeden Tag wiederholen kann. Spekulationen über die Attentatsmotive erschöpfen sich bislang im blinden Rätselraten der Medien. Die einzige belegte Verdachtskette führt nach wie vor zu der religiösen Sekte „Wahrheit des Papageis“, die gestern über einen Rechtsanwalt jedwede Beteiligung dementieren ließ. Indessen verfügt niemand über wirkungsvolle Vorkehrungsmaßnahmen. Den privatisierten Verkehrsunternehmen fiel plötzlich auf, daß ihre reduzierte Mitarbeiterzahl eine ausreichende Überwachung der Bahnen und Bahnhöfe längst nicht mehr zuläßt.

An den jetzt vermißten Fahrkartenkontrolleuren lassen sich die Ängste vieler Tokioter vermutlich am besten ablesen: So manchem graut seit langem, daß sich Tokio über kurz oder lang zu einer Metropole wie alle anderen entwickelt. Dann aber hätte man die gleiche Verrohung der Sitten, die gleiche Verarmung bestimmter Stadtviertel und den gleichen Anstieg der Kriminalitätsrate zu befürchten, wie das die Japaner vor allem in Amerika zu beobachten glauben. Wie lange also kann die heute noch vergleichsweise heile Tokioter Großstadtwelt den Gefahren der Globalisierung standhalten? Natürlich wissen die meisten Tokioter inzwischen längst, wie sich der Weltreisende in New York, Paris oder Berlin zu benehmen hat: immer auf der Hut vor den Armen der Metropolen, immer mit gehörigem Abstand zu den Stätten der Unterwelt, immer im Schutz des sicheren Tageslichts.

Tokio machte da bisher eine Ausnahme, die freilich auch eine Kostenseite hatte. Das gute Verhältnis zwischen Polizei und Organisiertem Verbrechen, das einerseits die Kriminalitätsrate niedrig hielt, diente andererseits als Sprungbrett der Yakuza-Mafia in die oberen Etagen der Finanzwelt. Zum Teil deshalb steckt Japan noch heute in einer tiefen Krise des Finanzsystems. Hier nämlich beißt sich die Katze in den Schwanz: Ein transparenteres Wirtschaften wird in Japan nur im Zuge einer weiteren Globalisierung möglich sein. Doch würden sich 30 Millionen Tokioter bei einer Abstimmung vermutlich für etwa weniger Wirtschaftswachstum und etwas mehr abgeschottete Sicherheit entscheiden. Georg Blume

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