: Der Front-Mann
AUS ISCHEWSK UND MOSKAUKLAUS-HELGE DONATH
„Ja zum Schachspieler – nein zum Politiker!“ steht auf ihren Transparenten. „Menschen sind keine Schachfiguren!“, rufen sie. Fünfzig empörte Jugendliche stehen am Flughafen von Ischewsk, sie bilden hier, am Westrand des Urals, das Empfangskomitee für den weltberühmten Schachspieler Garri Kasparow. Unbeirrt schmettern sie ihre Parole, dabei ist der ungebetene Gast längst an ihnen vorbeigehuscht – unerkannt.
Erst letztes Jahr hat der heute 43-jährige Garri Kasparow seine Schachkarriere an den Nagel gehängt, um sich komplett der Politik zu widmen. Doch junge Russen wissen kaum noch, wie der Schachweltmeister von 1985 eigentlich aussieht. Russlands staatliche Medien lassen ihn weder als Politiker noch als Schachexperten zum Zuge kommen. Wo immer er auch auftaucht, hat die Spielgemeinschaft aus Kreml und Provinzführung ihre Bauern schon in Position gebracht – auch in Ischewsk. Moskau lässt sich das einiges kosten.
Trotzdem findet seit gestern unter der Ägide des unversöhnlichen Putin-Gegners in Moskau ein Gegengipfel zum Treffen der Vertreter der führenden G-8-Industriestaaten statt, deren Vertreter am Wochenende in Sankt Petersburg zusammenkommen. „Das andere Russland“ nennt sich der Kongress, der in einem Hotel in der Moskauer Innenstadt tagt. Die Teilnehmer werden von Sicherheitsorganen und jugendlichen Kremlchargen bewacht und bespitzelt, denn die Mächtigen fürchten Kasparow und seine Anhänger. Bahnhöfe und Flughäfen werden seit Tagen landesweit überwacht, um Gesinnungsgenossen an der Reise dorthin zu hindern. Dutzende Delegierte schafften es nicht in die Hauptstadt und landeten stattdessen in Vorbeugehaft.
Auch am G-8-Tagungsort selbst wird hart durchgegriffen. In Sankt Petersburg wurden in der Nacht zum Montag zwei Journalisten aus Bielefeld verhaftet. Einer von ihnen, Eike Korfhage, wurde gestern zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt. Der Vorwurf lautet öffentliches Urinieren. Die beiden hatten als Berichterstatter eine Fahrradkarawane zum G-8-Gipfel begleitet.
In Moskau lassen sich die Kongressteilnehmer nicht einschüchtern. Denn Kasparow ist noch immer eine anerkannte internationale Größe, und das gibt Selbstvertrauen. Washington hat zwei stellvertretende Außenminister auf die Konferenz entsandt, der britische Botschafter hält einen Vortrag, und auch Kanadas Chefdiplomat ist vertreten. Von deutscher Seite haben der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Andreas Schockenhoff (CDU) und Grünen-Chef Reinhard Bütikofer ihre Teilnahme angekündigt. Igor Schuwalow, der Kremlbeauftragte für das G-8-Treffen, schäumte vor Wut und wertete die Teilnahme der Gäste als „unfreundlichen Akt“. Kasparows Vorwurf an die G-8-Regierungschefs wiegt schwer: In einem Aufruf klagt er den Westen an, aus Sicherheits- und Energieinteressen dem Demokratieabbau in Russland nichts entgegenzusetzen. Seine Prominenz bewahrt den Schachspieler vor den Folgen seines Tuns. Noch.
Trotz der staatlich organisierten Störmanöver ist ein breiter Mix aus oppositionellen Kräften auf dem Kongress vertreten, der vom ehemaligen Putin-Berater Andrej Illarionow über den früheren Ministerpräsidenten Michail Kasjanow bis zur schillernden Figur des Kultschriftstellers Eduard Limonow reicht. Dessen Partei, die Nationalbolschewiken (NBP), ist dem Kreml seit langem ein Dorn im Auge. Auch die Menschenrechtsaktivistin Ludmila Alexejewa von der Moskauer Helsinki-Gruppe gehört zum Veranstaltungskomitee.
Kasparow will mit dem „Anderen Russland“ nur ein vorübergehendes zivilgesellschaftliches Bündnis schmieden – über politische Grenzen hinweg, „wie 1988/89 in Chile, als ein breite Aktionsgemeinschaft die Diktatur zu Fall gebracht hat“. Es gibt sie in Russland, die Zivilgesellschaft, davon ist Kasparow überzeugt. Er ist ein charismatischer Akteur, fast so etwas wie ein politischer Aktionskünstler. Ein umsetzbares politisches Programm, Schritt für Schritt, würde den Schachspieler eher stören. Als Politiker ist er ein begnadeter Einpeitscher, der die Klaviatur der Revolutionsrhetorik aus dem Effeff beherrscht. In dieser Stärke liegt aber auch seine Schwäche: Es fehlt schlicht eine breite soziale Basis.
Die Welt des Schachs sei ihm zu begrenzt, hat Kasparow beim Abschied vom Profidasein gesagt, lieber wolle er sich der Politik „mit der gleichen Passion und Entschlossenheit wie dem Schachbrett“ hingeben. Dieses Versprechen löst er nun ein. Moskaus politische Elite witterte hinter dieser Ankündigung sofort eine Kriegserklärung. Und tatsächlich gründete der Schachspieler mit der „Vereinigten Bürgerfront“ im letzten Jahr ein Bündnis, das sich kein geringeres Ziel setzt, als das „autoritäre Regime im Kreml zu demontieren“. Die „Front“ sei ein Zweckbündnis auf Zeit, sie stehe fast allen Regimegegnern offen, nicht nur lupenreinen Demokraten, sagt Kasparow.
Die „Front“ ist nicht sein erster Versuch, die Kräfte der Regimegegner und Unzufriedenen zu bündeln. Vor zwei Jahren hob Kasparow mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen das „Komitee 2008“ aus der Taufe, dem Führungsfiguren des abgetauchten demokratischen Russlands der 90er Jahre angehörten. Auch Russland Intelligenz war mit von der Partie. Aber das „Komitee“ ging sang- und klanglos unter.
Mit der russischen Intelligenz ist Kasparow trotz allem nachsichtig, bis heute traut er ihr nicht viel zu: Sie hätte sich mit dem Regime weitestgehend arrangiert, erklärt er, keineswegs vorwurfsvoll.
Kasparows Urteil über den Zustand des Landes ist hart, unerbittlich. Russland befinde sich im Stadium des „Frühfaschismus“, behauptet er, Kompromisse mit der Kremlelite lehnt er strikt ab. Die oppositionelle Boheme in Moskau geht schon auf Distanz zu ihm – Radikalität gilt als die ewige Krankheit der russischen Intelligenz. Die etablierte, vom Kreml kaltgestellte und zur Bedeutungslosigkeit degradierte Opposition bleibt dem Gipfel des „Anderen Russland“ denn auch fern. Weder die Kommunisten noch die demokratischen Parteien Jabloko und Union der Rechtskräfte (UdR), die in den 90er-Jahren den demokratischen Aufbruch verkörpert haben, haben Delegierte geschickt.
Kasparows großer Erfolg im Schach gründete auf Angriffslust und Risikobereitschaft. Noch lässt man ihn gewähren, er kann sich mehr herausnehmen als andere Gegner des Regimes. Doch die kremltreue Presse stempelt ihn bereits zum Grenzgänger zwischen Genie und Wahnsinn, zum Roboter, der nur am Schachbrett wirklich funktionieren kann.
Seit dem letzten Jahr reist Kasparow auch durch die Provinz. 25 Regionen hat er besucht, zehn weitere stehen bis zur Wahl 2007 noch auf dem Programm. Er selbst spricht von 4.000 Bürgern, die sich zwischen Kaliningrad und Wladiwostok für die „Front“ engagieren. Glaubt er an den Erfolg? „Es geht ums Überleben“, antwortet er, „wem Matt droht, der denkt nicht übers Endspiel nach.“ In der Nomenklatura will Kasparow schon erste Risse erkannt haben. Sie könnten zu einem Machtwechsel führen, sagt er beim Essen in Ischewsk. Das Theaterrestaurant hat der kleinen Gruppe Politreisender einen Raum zur Verfügung gestellt. Schon das erfordert Mut. Denn eigentlich sollten die Veranstaltungen der „Front“ in der Universität stattfinden. Doch die Republikführung ließ ausrichten, der gerade laufende Ausbau der Bibliothek werde eingestellt, sollte Kasparow hier auftreten dürfen, berichtet ein Professor.
Am Nachmittag ist dann auch das Ausweichquartier, der Eispalast, gesperrt, angeblich wegen einer Bombendrohung. Jetzt kontrollieren Minenräumer und Spürhunde das Gebäude. Die fünfzig Gewerkschafter und Vorsitzenden kleinerer Parteien ziehen in ein Freiluftcafé auf dem Zentralplatz um. Kaum hat sich die Gruppe hingesetzt, gellt aus den Lautsprechern ringsum ohrenbetäubender Lärm. Ein bisschen viele Zufälle an einem einzigen Tag. „Sie lassen sich eben immer wieder etwas einfallen“, sagt Kasparow gelassen.
Warum tut er sich das an? Der Millionär zahlt seine Reisen aus eigener Tasche, er zwängt sich in die sowjetische Economy Class, steigt in einfachsten Hotels ab und lässt sich vom langen Arm der Staatsmacht auch in der Provinz noch schikanieren. „Jeder Zug, mit dem wir im Spiel bleiben, ist schon ein Sieg“, sagt er dazu. „Wir können nichts ändern, aber wir müssen wenigstens etwas tun.“
Kasparow wurde mit seinen Meisterpartien gegen Menschen und Computer zum Inbegriff des Superhirns, der seine Gegner am Brett mit physischer Präsenz und eiskaltem Mienenspiel das Fürchten lehrt. Als Reisender in Sachen Demokratie wirkt er wie ausgewechselt, fast friedfertig und sanft.
Nicht nur seine Anhänger besuchen seine Politveranstaltungen. Häufig wird er, der aus Baku in Aserbaidschan stammende Sohn einer Armenierin und eines deutsch-jüdischen Vaters, rassistisch und antisemitisch angepöbelt. Er lässt sich davon nicht aus der Fassung bringen, sondern greift die Argumente auf, zerlegt sie, relativiert, stellt Gegenfragen, ändert die Perspektive, baut einen Witz ein und setzt die Einzelteile anschließend wieder zusammen. Seine Zuhörer kleben ihm dann an den Lippen. Ein Abgeordneter des Stadtparlaments von Ischewsk, anfangs ein kämpferischer Gegner, schmilzt schlicht dahin. Am Ende will er nur noch eins: ein Erinnerungsfoto mit „Garri“. Schon das ist ein kleines Wunder.