■ Der Friedensprozeß in Nahost kommt erst jetzt in seine schwierige Phase. Netanjahu ist dabei nur ein Problem mehr.: Jenseits der Legenden
Wahlverlierer Schimon Peres der Friedensengel – Nachfolger Benjamin Netanyahu der Kriegstreiber. So einfach ist es nicht. Bisher überlebte der Osloer Friedensprozeß nur, weil er die eigentlichen Probleme – die Frage der israelischen Siedlungen im Westjordanland und Gaza-Streifen, die in aller Welt zerstreuten palästinensischen Flüchtlinge und der Status von Jerusalem – bis zu den sogenannten Endverhandlungen hinausgeschoben wurden. Daß nun das vorläufige Ende der Straße erreicht ist, liegt nicht nur an der Wahl des Rechtspopulisten Netanjahu, sondern auch an der Tatsache, daß es nichts mehr zu schieben gibt. Die Stunde Null der Endverhandlungen ist da.
Ende Februar veröffentlichte die israelischen Presse ein Strategiepapier des Arbeitspartei-Ministers Jossi Beilins. Jener, bekannt dafür, von Peres vorausgeschickt zu werden, um den Spielraum der Arbeitspartei im Friedensprozeß auszuloten, stellte darin die Position seiner Partei für die Endverhandlungen mit den Palästinensern dar. Diesem Plan zufolge sollte Israel die grüne Linie, also die Grenze zwischen dem Gebiet auf dem Israel 1948 gegründet wurde und dem 1967 besetzten Westjordanland, weiter in Richtung Westjordanland verschieben. Gut zwei Drittel der israelischen Siedlungen liegen unmittelbar hinter dieser grünen Linie. Bis zu zwölf Prozent des Westjordanlandes sollen so annektiert werden. Ein Schachzug, der etwa 100.000 Siedler mit einem Schlag zu normalen Bewohner Israels machen würde. Der Rest der Siedler müßte die Siedlungen räumen oder unter palästinensischer Verwaltung leben. Peres selbst blieb allerdings reserviert. Wiederholt ließ er verlauten, daß unter seiner Regierung keine Siedlung aufgelöst würde. Ein Versprechen, daß sogar Beilin bei Verhandlungen mit der National-Religiösen Partei, der Partei der Siedler, kurz vor den Wahlen bekräftigt hatte.
Auch die konkrete Politik der Arbeitspartei war deutlich. In den letzten vier Jahren unter der Regierung Rabin und Peres, also in der Hochzeit des sogenannten Friedensprozesses, stieg die Zahl der Siedler von 112.000 auf 147.000. Laut Statistiken des „Rates der jüdischen Siedler“ investierte die Regierung Rabin/Peres in den letzten vier Jahren dreimal soviel in die bestehenden Siedlungen wie die vorherige Likud-Regierung in der gleichen Zeitspanne. Unter Rabin und Peres wurden 220 Kilometer Umgehungsstraßen für die Siedler gebaut. Dafür wurden 24 Quadratkilometer Land konfisziert. (Zum Vergleich: Das Gebiet Jericho, das nach dem Oslo-I-Abkommen den Palästinensern zugesprochen wurde, umfaßt 16 Quadratkilometer.) Wenn der Likud nun die Macht übernimmt, kann er auf diese hervorragende, im Friedensprozeß konstruierte und von Peres realisierte Infrastruktur für die Siedlungen aufbauen.
Der Unterschied zwischen Arbeitspartei und dem Likud ist also kein qualitativer, sondern lediglich ein quantitativer. Beobachter, wie der israelische Menschenrechtler und politische Kommentator Israel Schahak, erwarten in den nächsten Jahren unter Likud eine Verdoppelung der Siedleranzahl. Bisher hält sich der Likud allerdings bedeckt. In einem kürzlich veröffentlichten Entwurf eines Leitfadens für die zukünftige Regierung ist von einer „Ausweitung und Entwicklung der Siedlungen“ die Rede. Die Formel „Neubau von Siedlungen“ wird bewußt vermieden. Dies ist ein weiteres Indiz, daß auch der Likud zunächst versucht, alle Türen offenzuhalten. Netanjahu muß sich durchlavieren: ein Spagat zwischen seinen Koalitionspartnern, Washington und den arabischen Ländern, die jeden seiner Schritte mit äußerster Aufmerksamkeit verfolgen.
70 Prozent des Westjordanlandes befinden sich nach dem derzeitigen Stand des Friedensprozesses unter israelischer Kontrolle. Unterscheiden werden sich die Konzepte von Peres und Netanjahu in der Frage, was mit dem Rest geschieht. Die Arbeitspartei hat letztlich offen mit dem Gedanken gespielt, dort einen palästinensischen Staat zuzulassen. In Beilins Papier ist gar davon die Rede, daß die dortige palästinensische Regierung das Recht hätte, über ihre Einwanderungspolitik selbst zu bestimmen – ein Vorschlag zur Lösung des Flüchtlingsproblems.
Mit einem kleinen Haken. Die aufgenommenen Palästinenser aus der Diaspora, verlören so das Recht, in die 48er Grenzen Israels zurückzukehren. Alles weitere, unter anderem wie viele Einwanderer ein palästinensischer Winzstaat tatsächlich aufnehmen könnte, wäre dann ein Problem von Arafats Regierung.
Likud dagegen schwebt ein Selbstverwaltungmodell vor nach dem Muster der südafrikanischen Bantustans. Die Außen- und Sicherheitspolitik für dieses palästinensische Gebilde blieben fest in israelischen Händen. Über die Frage von Flüchtlingen wird noch nicht einmal diskutiert.
Aber letzteres Szenario kann durchaus auch weiter gedacht werden. Likud ist für seine exzellenten Beziehungen zum jordanischen Königreich bekannt: Auch Begin und Schamir haben stets die jordanische Karte ausgespielt. Nach dem Motto: Es gibt einen palästinensischen Staat, und der heißt Jordanien. Das palästinensisch selbstverwaltete Westjordanland könnte in einen irgendwie geartetem Zusammenschluß mit Jordanien verbunden werden – und PLO-Chef Arafat und der jordanische König Hussein wunderbar gegeneinander ausgespielt werden. Manche der Westjordanland-Palästinenser, vor allem die landbesitzende alte Elite, werden sich einem solchen Szenario möglicherweise nicht mehr verschließen. Was zählt, ist das Ende der Besatzung, und wer Arafat mit Hussein vergleicht, mag bei zweiterem mehr Rechtssicherheit und einen moderateren Diktaturstil entdecken.
Manche halten ein derartiges Szenario für einen Ausweg. Doch gewiß werden viele Palästinenser, die in den nächsten Jahren unter verschärfter Abriegelung und Wirtschaftsbaisse leiden werden, auch verzweifelt neue Wege des Widerstands suchen. Hanan Aschrawi, palästinensische Mitarchitektin des Oslo-Abkommens, hat bereits angekündigt, daß in Zukunft „nicht nur diplomatische Interventionen, sondern auch öffentlicher Widerstand“ erforderlich sei. Ob dieser zukünftige Widerstand auch terroristische Formen annimmt, hängt weitgehend von dem Grad der Verzweiflung ab.
Wie Netanjahu darauf antworten wird, steht bisher in keinem Regierungsleitfaden. Doch je entblößter er dasteht, weil er sein Versprechen für Sicherheit zu sorgen nicht einzulösen vermag, desto gefährlicher wird die Situation.
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