Der Fortsetzungsroman: Kapitel 36: Wenn Denker dichten

Ein legendärer Abend im DT - und Mütterchen mittendrin: die "Faust"-Inszenierung von Adolf Dresen 1968.

Mütterchen bei der Arbeit als Regieassistentin 1966 im DT. Bild: Archiv Streisand

Jetzt kommt die Geschichte, die diesem Roman seinen Namen gab. Es passierte am 30. September 1968 auf der Premiere der legendären „Faust“-Inszenierung von Adolf Dresen. Mütterchen machte Regieassistenz und spielte die alte Baubo, eine Mininebenrolle ohne Text. In dem Prachtband „100 Jahre Deutsches Theater Berlin“ von 1983 steht die Rolle im Register auf Seite 486 an letzter Stelle.

Außerdem steht dort neben dem R für Regie außer Dresen auch noch der Name Wolfgang Heinz. Der war damals Intendant. „Ditt stimmt aber nich“, sagt Tante Erna, die damals 16 Jahre alt war, „eigentlich war das Dresens Inszenierung. Der Heinz hat da nur nachträglich drin rumgewurschtelt.“ Als Intendant zurücktreten musste er nachher doch. Dresen selber hat vor 15 Jahren einen schönen Artikel im Freitag über diese Inszenierung geschrieben: „Wir haben“, schreibt er, „was sehr selten geschieht, auch den ,Walpurgisnachtstraum‘ gespielt, und der wurde zu einem Hauptstein des Anstoßes und sofort nach der Premiere verboten. Bei Goethe ist der ,Traum‘ eine Kabarettszene, in der er sich über Zeitgenössisches lustig macht. Seine Anspielungen sind heute ohne Kommentar nicht mehr zu verstehen. Wir haben damals die Texte neu geschrieben und auf unsere eigene Zeit bezogen.“

Mit Zetteln in den Händen standen die Schauspieler auf der Bühne. Bis zuletzt war an den Versen gefeilt worden. Bei Goethe ist die Szene die goldene Hochzeit von Oberon und Titania, bei der verschiedene Gäste geladen sind, die Verse als Geschenk vortragen. Dresen selbst zitiert die Hochzeit von 1968, beginnend mit Oberon, gespielt von Gerhard Bienert:

„In ein Theater soll ich gehn

das find ich gut, das find ich schön.

Na, bisschen staubig, bisschen klein,

das wird wohl das Deutsche Theater sein."

Seine Gemahlin Titania – gespielt von Jürgen Holtz:

"Das Deutsche Theater ist so nett,

ich geh so gern hin wie ins Bett,

jedoch ist die Enttäuschung groß,

so wie im Bett ist nichts mehr los.“

Dann brachten Puck (Peter Aust) und Ariel (Hans Lucke) die Absagen derer, die nicht zur Feier kommen konnten – etwa:

„Herr Heiner Müller lässt bestelln

dass er heut kränklich wäre,

er hatte gestern Abend erst

mit einem Stück Premiere.

Oberon und Titania, tutti:

Ein Stück von Müller, wo denn das?

Wann gehen wir mal hin denn?

Antwort:

Zu spät, es ist schon abgesetzt,

und zwar aus technischen Gründen.“

„Das war damals starker Tobak“, schreibt Dresen, „Verbote von Müller-Stücken hatte es mehrmals gegeben, mit vergleichbar fadenscheiniger Begründung.“

Mütterchen als alte Baubo hatte nur einen Auftritt in der Walpurgisnacht, der Szene, die dem Traum vorangeht. Meine Großmutter sollte auf einem Schwein über die Bühne reiten. Das Schwein war aus Holz und auf der Drehbühne montiert. Mütterchen sollte hinter der Bühne auf das Schwein aufsteigen und zu den Original-Goethe-Versen „Die alte Baubo kommt allein, // Sie reitet auf einem Mutterschwein.“ über die Bühne fahren. Noch heute rezitiert meine Tante Erna, sobald sie den Vers hört, wie aus der Pistole geschossen die 1968 darauf folgenden Reime:

„Ein Bellmann hebt an uns das Bein,

Ein Funke will nicht zünden.

Ein Schuster klebt an seinem Leim,

Kein Kerndl ist zu finden"

Bellmann, Funke, Schumacher und Kerndl hießen die wichtigsten Theaterkritiker der DDR. Ihr Verrisse waren quasi vorprogrammiert. Mütterchen war spät dran. Vermute ich. Wahrscheinlich hatte sie sich auf den letzten Drücker noch um irgendwas gekümmert, jedenfalls rannte sie nun in letzter Sekunde auf die Bühne. Gegen die Fahrtrichtung.

Zwischenspiel:

Macht das nicht! Das ist eine ganz blöde Idee. Man konnte das früher sehr schön studieren bei Leuten, die aus fahrenden U- oder S-Bahnen ausstiegen. Je cooler, desto früher. Mein Freund Claudius hat es erlebt: „Das war mein Äh-hallo-ich-bin-übrigens-neu-in-Berlin-Erlebnis im Jahr 1991“, sagt er, „als die S-Bahn-Türen sich vor dem Halt aufziehen ließen. Betont lässig gegen die Fahrtrichtung ausgestiegen, vom Impuls der Bahn, den ich noch im Körper hatte, fast von den Beinen gesäbelt, rot geworden, weggeschlichen.“ Eine Drehbühne ist keine S-Bahn, zugegeben, aber in dieser Beziehung hat die eine mit der anderen doch eine gewisse Ähnlichkeit. Mütterchen säbelte es die Beine weg. Sie verlor das Gleichgewicht. Und einen Schneidezahn.

Weil sie aber nun mal durch und durch Schauspielerin war, meine Großmutter, und weil der Lappen nun mal hoch muss, egal, was passiert, rappelte sie sich auf, kletterte auf ihr Schwein und ritt über die Bühne. Erst dann, hinter der Bühne, nach getaner Arbeit, fiel sie in Ohnmacht. Stimmt alles nicht, sagt Tante Erna. Sie saß nämlich drin in der Premiere. „Das mit Mütterchens Zahn war viel später“, sagt sie, „und es war auch keine Drehbühne, sondern ein Schwein aus Pappmaché, das an Seilen vom Schnürboden heruntergelassen wurde und durch den Himmel flog.“ – „Die haben Mütterchen gegen die Wand gedonnert?!“, rufe ich, die Hände vor dem Mund. „Ist sie runtergefallen?“ Wahrscheinlich nicht, jedenfalls kann Erna sich daran nicht erinnern.

Woran sie sich aber erinnert, ist, dass Fred Düren, der den Faust spielte, sich in der Schlussszene bei Gretchen im Kerker die Hand aufschnitt und die halbe Bühne vollblutete. Unterbrechung, Vorhang, Theaterarzt, Wischeimer. Und dann, schreibt Dresen, verließen die ersten beiden Reihen geschlossen den Saal. Es war die gesamte Politprominenz.

Der „Faust“ wurde zu Ende gespielt. Dresen schreibt: „Es war dann eine ziemlich lange Stille. Der Applaus, der dann begann, war sehr groß, vielleicht der größte, den ich erlebt habe.“

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