Der Fall Harry Wörz: Almosen für ein kaputtes Leben
Es war einer der größten Justizirrtümer der jüngeren Geschichte. Die Ignoranz der Behörden hinterlässt einen Trümmerhaufen.
Harry Wörz ist nach viereinhalb Jahren Haft und vier Gerichtsverfahren ein gebrochener Mann und mit 50 Jahren arbeitsunfähig. Seine damalige Frau ist schwerstbehindert, auf Pflege und einen Rollstuhl angewiesen. Der gemeinsame Sohn wuchs bei den Großeltern auf und ist inzwischen volljährig, hat aber den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen.
Auch dem Vertrauen in die Arbeit von Polizeibehörden wurde mit dem Fall Harry Wörz großer Schaden zugefügt. Durch schwere Ermittlungsfehler und zu frühe Festlegung auf einen vermeintlichen Täter wurde nicht nur ein Unschuldiger zum Justizopfer, die Schlamperei der Polizei verhinderte auch, dass der wirkliche Täter ermittelt werden konnte. Außerdem zeigt die Affäre Harry Wörz, wie schwer es dem Rechtssystem fällt, seine Fehler zu revidieren.
Im Januar 1998 befand das Landgericht Mannheim den Installateur Harry Wörz für schuldig, im Jahr davor seine von ihm getrennt lebende Frau mit einem Tuch fast erdrosselt zu haben. Die junge Polizeibeamtin hat den Mordversuch schwerverletzt überlebt. Sie ist seitdem spastisch gelähmt und kann sich zur Tat nicht mehr äußern.
Zum Geständnis gedrängt
Der damals zweijährige Sohn der beiden hat die Tat wohl gesehen, aber keine Erinnerung daran. Noch in derselben Nacht wird Wörz als Verdächtiger festgenommen, legt ein Geständnis ab, das er später widerruft. Polizeibeamte hätten ihn dazu gedrängt, sagt er. Das Landgericht Mannheim verurteilt ihn dennoch wegen versuchten Mordes zu 11 Jahren Haft.
Wörz beteuert seine Unschuld, Freunde unterstützen ihn öffentlich, er beginnt im Gefängnis mit dem Aktenstudium. Erst ein Zivilverfahren wegen Schadenersatz, das Wörz’ ehemalige Schwiegereltern gegen ihn anstrengen, bringt die Wende. Dem Zivilrichter fällt beim Aktenstudium die schlampige Ermittlungsarbeit der Pforzheimer Polizei auf. Da werden mehrdeutige DNA-Spuren am Tatort leichtfertig Wörz zugeordnet, und das fehlende Motiv wird außer Acht gelassen. Es könne nicht zweifelsfrei festgestellt werden, dass Harry Wörz der Täter sei, heißt es im Urteil des Karlsruher Zivilgerichts.
Nach viereinhalb Jahren Haft wird Wörz nun vorläufig aus dem Gefängnis entlassen. Der Schuldspruch wird überprüft, das Landgericht Mannheim wehrt sich aber gegen ein Wiederaufnahmeverfahren, das Wörz’ Anwalt schließlich vor dem Oberlandesgericht durchsetzt. Der neue Prozess endet 2005 mit einem Freispruch, wird jedoch wegen Rechtsfehlern vom Bundesgerichtshof kassiert. Erst 2010 wird Harry Wörz endgültig freigesprochen.
Die späte Korrektur des Justizirrtums lässt jedoch viele Fragen offen. Wer tatsächlich versuchte, die Ex-Frau von Harry Wörz zu töten, bleibt bis heute ungeklärt. Die Verantwortung dafür tragen die Staatsanwaltschaft und die Polizei vor Ort. Das Opfer, sein Vater sowie ein weiterer Verdächtiger, der damalige Geliebte des Opfers, sie alle sind Polizeibeamte auf dem Revier in Pforzheim. Trotzdem ermittelten die Pforzheimer Beamten selbst statt die Ermittlungen an eine unbefangene Behörde abzugeben.
„Wie eine Herde Elefanten“
Die Richter machen den Ermittlern bei Wörz’ Freispruch schwere Vorwürfe. „Wie eine Herde Elefanten“ seien die Polizisten durch den Tatort getrampelt, hieß es. Entlastende Zeugenaussagen seien in versteckten Aktenordnern „versenkt“ worden, gegen den zweiten Verdächtigen habe man nicht angemessen ermittelt.
Es bleibt der Eindruck, dass die Pforzheimer Polizisten einen Kollegen nicht zum Hauptverdächtigen machen wollten und sich stattdessen auf den einzigen Nichtpolizisten im Fall konzentrierten. Nach Wörz’ Freispruch ermittelt die Staatsanwaltschaft noch einmal gegen den zweiten Verdächtigen, der aber für die Tatnacht von seiner Ehefrau ein Alibi erhält. 2013 werden die Ermittlungen ergebnislos eingestellt.
Der Freispruch 2010 ist zwar eine Genugtuung, aber alles andere als ein Triumph für Harry Wörz. Er lebt heute mit seiner neuen Familie zurückgezogen nahe Pforzheim. Seine Geschichte wurde zu einem Fernsehfilm verarbeitet. In Interviews erlebt man einen blassen, schmalen Mann, der darum ringt, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Der gelernte Installateur hat eine Ausbildung zum Bauzeichner gemacht, kann aber wegen der psychischen Belastung durch das Verfahren im Berufsleben nicht mehr Fuß fassen. Dazu kommen finanzielle Probleme. Anwalts- und Gerichtskosten über all die Jahre belaufen sich auf Zehntausende Euro.
Ein weiteres Mal vor Gericht
Selbst der damalige Justizminister des Landes bedauert Wörz öffentlich. Doch bei den Verhandlungen zeigt sich das Land beklemmend hartherzig. Die Staatskasse will nicht mehr als 112.000 Euro Entschädigung für die 1.667 Tage erlittene Haft bezahlen. Zudem werden Kosten für Kost und Logis im Gefängnis und Steuern abgezogen. Es bleiben ihm gerade einmal 25 Euro pro Hafttag. Wörz zieht also ein weiteres Mal vor Gericht, streitet für eine lebenslange Rente und muss wieder Demütigungen über sich ergehen lassen.
Die Bürokraten zweifeln etwa an, dass er je eine Chance gehabt hätte, in seinem neuen Beruf zu arbeiten. Sie wollen der Entschädigungssumme das geringere Gehalt, das er vor seiner Festnahme als Installateur erhalten hat, zugrunde legen. Wörz tut, was er in all den Jahren gelernt hat. Er arbeitet sich durch Akten, von denen er sagt: „Sie sind mein Schutzschild.“
Zieht man in Betracht, was dieser Mann erlitten hat, ist die Summe, die Wörz nun als Entschädigung akzeptiert, nicht viel Geld. Aber welche Summe wäre schon angemessen für jemanden, der mit allem Recht von sich sagt: „Die haben mein Leben kaputt gemacht“?
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