Der Erste Weltkrieg im Theater: Das nackte Überleben

Im Gedenkjahr 2014 ist der Erste Weltkrieg auch an den Theatern ein Thema. Vor allem „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque wird adaptiert.

„Im Westen nichts Neues“ wird in Hannover als Materialschlacht inszeniert. Bild: Katrin Ribbe

Wie könnte ein Mahnmal für den unbekannten Soldaten heute aussehen? Wie die riesige Metallwand in Luk Percevals Theaterinszenierung „Front“ am Thalia Theater Hamburg zum Beispiel. Mächtig klotzt sie in die Höhe: Hunderte zusammengeschweißte Zinn- und Stahlkacheln, die ein Musiker während der Vorstellung live bearbeitet. Metallisches Quietschen, Schleifen, Wimmern wird entlockt. Apokalyptische Laute, die an diesem Abend nie verstummen und als Soundtrack die gesprochenen Frontberichte begleiten.

Auch elf Schauspieler spielen in diesem Kriegsrequiem. Anfangs kommen sie wie Musiker auf die Bühne, knipsen an Notenständern Leselampen ein, als seien sie Teil einer Klangpolyphonie. Oft aber stieren ihre Blicke hochkonzentriert lauschend nach vorne, als würden sie kaum sehen, doch genau hören, welches Grauen in all diesen Klängen lauert. Dann geben sie im Stimmengewirr wieder selbst Zeugnis ab, erzählen von Alltag und Not in den Schützengräben.

„Front“ ist das ambitionierteste, aber nicht das einzige Theaterprojekt zum Ersten Weltkrieg. Im Gedenkjahr 2014 beschäftigen sich viele Bühnen mit dem katastrophalen Krieg, in dem 17 Millionen Menschen starben. Er tritt damit in der Aufmerksamkeit aus dem Schatten des Zweiten Weltkriegs heraus.

Das Schauspielprogramm der Salzburger Festspiele zeigte in diesem Sommer ausschließlich Stoffe zu dem Thema. In diesem Herbst stehen Adaptionen von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ in Hannover, Göttingen, Karlsruhe, Braunschweig auf den Spielplänen.

Auszüge aus Zeitdokumenten verwendet

Auch Regisseur Luk Perceval und seine Dramaturgen haben in Hamburg für ihre „Front“-Textcollage Auszüge aus Zeitdokumenten verwendet, aus Henri Barbusses „Das Feuer“ und vor allem aus Remarques autobiografisch angelehntem Weltkriegsroman. Was dort ungeschönt beschrieben ist, wiegt schwer und ist realistisch kaum spielbar: die Schreie der Verwundeten, das Sterben, der Dreck in den Schützengräben, zunehmende innere Verwirrung.

In der Direktheit spürt man, dass all das beglaubigt ist – Remarque kämpfte im Juni 1917 selbst an der Westfront und verbrachte nach schwerer Verletzung über ein Jahr im Lazarett. Sachlich, aber mit großer epischer Kraft hat er Kriegserlebnisse fiktionalisiert. Eine Qualität, die den Bühnenadaptionen von „Im Westen nicht Neues“ in die Hände spielt.

Ein Genregesetz des Theaters besagt: Krieg lässt sich nicht eins zu eins darstellen. Statt eines „als ob“ muss man auf andere Mittel zurückgreifen. Aufwendiger Material-, Klang- und Kunstbluteinsatz kann als Ersatzstoff helfen, gerät oft aber auch zum unkalkulierbaren Balanceakt. Percevals „Front“ und Lars-Ole Walburgs Remarque-Inszenierung am Schauspiel Hannover scheuen das Risiko nicht, setzen auf große Assoziations-, Klang- und Klageräume, in denen das Leid des Einzelnen nicht untergeht, sondern gezielt nach vorne geschickt wird.

Mit dem unschuldigen Furor jugendlicher Steinewerfer

Walburg lässt „Im Westen nicht Neues“ in einem schneeweißen stilisierten Kaiserreichssalon spielen. Gegen diese Intaktheit der bürgerlichen Welt werden der Dreck, die Erschöpfung und Aussichtslosigkeit gestellt, anfangs mit kalkulierter Künstlichkeit. Denn bald knallen die fünf Schauspieler gefüllte Farbbeutel und -eimer an die Wände, Attacken, die mit dem unschuldigen Furor jugendlicher Steinewerfer ausgeführt werden.

Eigenhändig verwischen sie die rote und schwarze Farbe zu bräunlichem Schlamm. Verschmierte Körper hinterlassen Spuren an den Wänden, zugleich Täter- und Opferabdrücke. Eine Besudelung, die zur Verdichtung wird. Eine Materialschlacht, die in ihrer zunehmenden Körperlichkeit realistische Züge gewinnt.

Am Ende gleicht das Bühnenbild einem Action-Painting-Schlachtbild, das weit über den Theaterraum herausreicht. Man denkt unweigerlich an die von der Artillerie zerschossenen Landschaften bei Verdun, die den Oberflächen fremder Planeten gleichen, aber auch an die vielen Künstler und Maler, die im Krieg ihr Leben verloren oder mit versehrten Körpern zurückkehrten.

Die Stiefel der Soldaten

Der groß gezogene Rahmen verleiht den Kriegsalltagsszenen doppelte Kraft, die von den Schauspielern zwischendurch mehr erzählt als gespielt werden. Die Stiefel der Soldaten sind ein wiederkehrendes Thema, im Morast der Front sind sie so wertvoll, dass man sie im Lazarett den Sterbenden stiehlt. Selbsterhaltung, Egoismus, der Drang nach Schlaf, Essen, Trinken, davon ist immer wieder die Rede. Das nackte Überleben ist im Krieg das Naheliegende, das hebt die Inszenierung hervor.

Politischer Verstand lässt sich anhand von Walburgs oder Percevals Arbeit nicht schärfen. Jedenfalls nicht im Sinne der jüngst in der Öffentlichkeit entfachten Diskussion über Schuld, Versagen und Binnenlogik des Ersten Weltkriegs, die vor allem Christopher Clarkes Buch „Die Schlafwandler“ mit der neu erzählten Vorgeschichte bis 1914 ausgelöst hat.

Eine andere Diskussionslinie gilt dem Schrecken dieses ersten modernen Kriegs. Die Männer in den Schützengräben wurden eingeholt von der industriellen Revolution der Rüstungstechnik, sodass Kavalleristen zu Pferd gegen Maschinengewehre aufmarschierten, Soldaten zu Fuß plötzlich Panzern gegenüberstanden.

Im Dauergewitter der Klangcollage

An die daraus folgenden zermürbenden Stellungs- und Grabenkriege docken die Theaterarbeiten an. Geben den Hauptleidtragenden eine Stimme. Gleichzeitig lösen sich die Theaterbilder von der Geschichtsrealität. Zeitlose Figuren stehen dort, die desillusioniert und bar aller patriotischen Gefühle kämpfen, um zu überleben. Das ist der Blick in einen Nahbereich, der allgemein gültigere Bezüge möglich macht und Krieg nicht historisch erzählt. Und auch eine abstrakte Körperlichmachung von Krieg im Dauergewitter der Klangcollage oder im rutschenden Farbmatsch.

Luk Perceval hat „Front“ mit elf internationalen Schauspielern besetzt, deutsch-, flämisch-, französisch- und englischsprachig. Die Sprachverwirrung ist Konzept. In einer Reihe stehen sie auf der Bühne, eine geschlossene Front, Sinnbild für grenzüberschreitendes Leid.

Mit dieser hehren Botschaft ist der Abend, eine Koproduktion des Thalia Theaters Hamburg und des belgischen NT Gent, in etliche europäische Städte gereist, dreißig sollen es bis zum Frühjahr insgesamt werden. Auch in Sarajevo, dem Ort, wo das Attentat auf den österreichischen Thronfolger einst den Krieg auslöste, war ein Gastspiel zu sehen.

Vor dem Berliner Schloss Bellevue wurde auf Einladung des Bundespräsidenten eine Kurzversion vor 400 geladenen Gästen aus Politik und Wirtschaft gezeigt. Adressaten, bei denen man sich mit seinem reisenden Mahnmal richtig fühlte, heißt es aus dem Theater. So trägt es seinen Teil zur Erinnerungsarbeit bei.

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