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Der Elefant im Raum

Warum bleiben Hinweise auf Misshandlung und Missbrauch von Kindern in Deutschland so oft ohne Konsequenzen, fragt die Journalistin Miriam Hesse in ihrem Buch „Weggeschaut“

Von Nina Apin

Viele Menschen werden dieses Buch vermutlich nicht lesen. Kaum ein Thema gilt in Buchläden derart als Kassengift wie das Thema Kindesmissbrauch. An mangelnder Relevanz liegt es nicht. Die Fallzahlen sind erschreckend und steigen seit Jahren, was jährlich nach Präsentation der Kriminalitätsstatistik zu alarmierter Medienberichterstattung führt. Immer wieder erschüttern besonders dramatische Fälle die Öffentlichkeit. Doch ist die akute Empörung abgeklungen, befassen sich nur diejenigen mit sexueller Gewalt gegen Kinder, die es müssen: Betroffene und ihre Familien, Therapeut:innen, Beschäftigte in der Jugendhilfe, Rich­te­r:in­nen, Staats­an­wäl­t:in­nen und Pädagog:innen. Wobei nicht einmal die drei letztgenannten Berufsgruppen unbedingt bewandert sind auf diesem Gebiet, so wie man es annehmen würde: Weiterhin mangelt es an Grundwissen über Prävention sowie das Ausmaß und die Folgen von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche selbst bei Berufsgruppen, die oft mit Betroffenen zu tun haben.

Die Journalistin Miriam Hesse prangert dieses strukturelle Desinteresse an. Ihr Buch „Weggeschaut. Wie Deutschland im Kampf gegen Kindesmissbrauch versagt“ ist eine Anklage. Am Beispiel mehrerer Skandale aus den vergangenen Jahren, vom „Campingplatzfall“ im nordrheinwestfälischen Lügde über den von Mutter und Lebensgefährten zur Vergewaltigung „angebotenen“ Jungen in Staufen bis zu den in einer Pflegefamilie gequälten Kindern im baden-württembergischen Steinlachtal fragt Hesse nach Verantwortlichkeiten und Fehlern im System: Wie kann es sein, dass besonders in Fällen von komplexen Gewaltsituationen das große Ganze oft nicht gesehen wird?

Dazu rollt Hesse noch einmal die ganzen unglaublichen Details von behördlichem und menschlichem Versagen auf: Da ist die Psychologin, deren 40-seitiges Gutachten mit Warnung vor der Lebensgefahr eines Pflegekindes im Steinlachtal vom Jugendamt zurückgeschickt wird – ungelesen. Der Jugendamtsleiter in Tübingen, der Hinweise auf akuten sexuellen Missbrauch durch einen Pflegevater wochenlang ignoriert und nur mit einem darüber spricht: dem Beschuldigten. Die Kreispolizei in Lippe, aus deren Räumlichkeiten beschlagnahmte Datenträger des Haupttäters von Lügde verschwinden. Sie sind bis heute verschollen.

Vieles davon ist bereits bekannt, anderes neu. Hesse geht es darum, aufzuzeigen, wie sich das Versagen Einzelner, sei es aus Unkenntnis, Zeitmangel oder Borniertheit, addiert. Zu Umständen, die dazu führen, dass ein Kind am Ende tot ist, jahrelang gequält oder vergewaltigt wird und dies trotz einer Vielzahl von Gefährdungshinweisen.

Den Fall(nach)betrachtungen stellt Miriam Hesse thematisch passende Interviews mit Ex­­per­t:in­nen zur Seite. Diese lesen sich oft recht erwartbar: Der Oberstaatsanwalt Georg Ungefuk fordert mehr Datenschutzbefugnisse für Ermittler. Andrea Wimmer vom Münchner Kinderhaus beklagt, dass Schutzstellen wie ihre heillos überlastet und unterfinanziert sind. Beides, dass Datenschutz in Deutschland allzu oft Kinderschutz verhindert und der Schutz von Kindern politisch null Priorität hat, ist sattsam bekannt.

Miriam Hesse: „Weg­geschaut. Wie Deutschland im Kampf gegen Kindesmissbrauch versagt“. Hirzel, Stuttgart 2025, 234 Seiten, 24 Euro

Dass die Journalistin sich zudem stellenweise zu sehr von der kleinteiligen Logik und drögen Fachsprache von Behörden („Versäulung“) vereinnahmen lässt und die Interviews eher Abfragecharakter haben, erschwert die Lektüre an manchen Stellen zusätzlich.

Am interessantesten ist Hesses Buch dort, wo sie strukturelle Fehler ganz genau benennt, etwa das dramatische Ungleichgewicht zwischen starken Elternrechten und einem kaum vorhandenen Blick (geschweige denn Engagement) für Kinder. Oder wo sie nach konkreten Konsequenzen von Versagen fragt: Die Fälle in Staufen und Münster etwa haben dazu geführt, dass Fortbildungen für Fa­mi­li­en­rich­te­r:in­nen gesetzlich zumindest empfohlen werden. Außerdem müssen sich Rich­te­r:in­nen bei einer Anhörung jetzt verpflichtend ein persönliches Bild vom Kind machen – was es misshandelnden Eltern in Zukunft schwerer machen dürfte. Und die notorisch unterbezahlten Gerichtsbeistände für Kinder bekommen künftig etwas mehr Geld, allerdings zu wenig, um den dramatischen Personalmangel in diesem Bereich zu stoppen.

Es gibt echte Lichtblicke wie etwa die komplette Neuausrichtung des Jugendamts Breisgau-Hohenschwarzwald an kindlichen Bedürfnissen, aber sie sind rar, das zeigt Hesses Buch. Insgesamt gilt in Deutschland weiterhin, was die Verfahrensbeiständin Katja Seck formuliert: „Jeder spricht von Kinderrechten, aber den Worten folgen zu wenig Taten.“

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