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Archiv-Artikel

„Der Druck ist da, auch bei uns“

Wie reagieren junge Frauen auf den Mord an Hatun Sürücü? Was denken sie über Ehre, Familienhierarchien und arrangierte Ehen? Und wie wollen sie leben? Die taz traf fünf Migrantinnen zwischen 14 und 27 in einem Jugendzentrum. Ein Gespräch

MODERATION SABINE AM ORDEUND ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Als ihr von dem Mord an Hatun Sürücü gehört habt, was ist euch da durch den Kopf gegangen?

Yesmin: Wir haben in der Schule darüber geredet. Unsere Lehrerin wollte wissen, was unsere Meinung dazu ist. Die Mädchen haben gesagt, dass sie das schlimm finden. Aber die Jungs meinten, dass sei richtig.

Was hast du da gedacht?

Yesmin: Ich dachte, dass sei nicht ganz ernst gemeint. Aber die meinten das wirklich ernst. Das hat mich erschreckt. Unsere Lehrerin hat dann gefragt: Würdet ihr auch so etwas machen, wenn es eure Schwester wäre? Da haben sie gesagt: Ja, das würden wir machen.

Wie hat die Lehrerin darauf reagiert?

Yesmin: Sie hat etwas gesagt wie „So etwas kann man doch nicht machen“. Aber genau weiß ich es nicht mehr.

Fatma: Ich habe es in den Nachrichten gehört und mir gleich gedacht: Das ist eine Familiensache. Und ich habe gleich befürchtet, dass es jetzt eine ganz schreckliche Debatte in der Politik und in den Medien gibt.

Und, findest du die Debatte schrecklich?

Fatma: Ja, jetzt sieht es so aus, als würden alle türkischen Frauen zwangsverheiratet und auch ermordet, wenn sie etwas tun, was die Familie nicht will. Das sind Einzelfälle, ganz extreme Fälle. Das ist schlimm. Aber auch nicht neu. Trotzdem reden plötzlich alle darüber. Aber was ist mit deutschen Frauen, die von ihrem Ehemann erschossen werden, oder mit spanischen oder italienischen Frauen? Darüber redet niemand.

Hattet ihr Verständnis für das Leben von Hatun Sürücü? Sie hat sich von ihrem Mann getrennt, ist mit ihrem Sohn wieder nach Berlin gezogen, hatte Männerbeziehungen.

Yesmin: Ich finde nicht richtig, wie sie gelebt hat. Aber das ist doch kein Grund, sie zu töten.

Songül: Jeder soll leben, wie er will. Natürlich ist es richtig, dass sie sich von ihrem Mann getrennt hat, wenn sie nicht mehr mit ihm zusammen sein will.

Yesmin, wenn deine Eltern dich mit einem Mann verheiraten würden, den du nicht liebst und mit dem du nicht klarkommst, würdest du dich von ihm trennen?

Yesmin: Nein, ich glaube nicht.

Warum nicht?

Yesmin: Weil das nicht geht. Eine Frau muss bei ihrem Mann bleiben.

Und wenn sich deine Freundin von ihrem Mann trennen wollte, würdest du sie verstehen?

Yesmin: Ich würde versuchen, ihr zu helfen. Sie sollte mit ihrem Mann reden.

Und wenn er sie schlägt?

Yesmin: Dann sollte sie zur Polizei gehen.

Fatma: Das hat aber doch nur Sinn, wenn die Polizei etwas tun würde. Die wissen aber viel zu wenig über Migranten und können mit unseren Problemen nicht umgehen.

Aylin: Ich würde nicht mein Leben lang unglücklich sein wollen und mich quälen. Aber bei einer Trennung müsste ich meine Familie verlassen. Meine Eltern würden mich allerdings nicht zur Heirat zwingen, das läuft anders.

Wie?

Aylin: Die Eltern suchen einen Mann aus. Man kann zwar Nein sagen, aber letztendlich trifft nicht das Mädchen die Entscheidung.

Yesmin: Genau.

Songül: Viele Eltern sind ganz geschickt – da merkt die Tochter gar nicht, dass sie schon jemandem versprochen wird. Da kommt ein Heiratsantrag, und sie sagen: „Guck dir den mal an.“ Manchmal denkt die Tochter, sie hat sich verliebt, aber hinterher stellt sie fest: Das war ja alles geplant. Die meisten türkischen Familien wollen nicht, dass die Kinder jemanden aus einem anderen Kulturkreis oder mit einer anderen Region heiraten, sondern es soll lieber ein Cousin aus der Türkei sein. Manchmal wird ein richtiger Austausch zwischen den Familien vereinbart: Wenn du meine Tochter für deinen Sohn bekommst, bekomme ich deine für meinen. Es spielen auch ökonomische Gründe eine Rolle, da geht es um Grundstücke, um Landbesitz.

Aylin: Die traditionellen Familien wollen ihre Kinder vor der deutschen Gesellschaft schützen. Sie sollen auf keinen Fall so leben wie die Deutschen. Viele Familien wollen deshalb auch nicht, dass die Töchter Kontakt zu Deutschen haben, auch nicht zu deutschen Mädchen.

Manche Mädchen dürfen nach der Schule gar nicht mehr aus dem Haus, sondern müssen zu Hause ihren Müttern helfen. Wie ist das bei euch?

Aylin: Der Druck ist da, auch bei mir. Die Mädchen sollen zu Hause bleiben. Die Eltern haben Angst, dass die Mädchen durch deutsche Freunde auf andere Ideen kommen, dass sie selbst anders leben wollen. Schminken ist so ein Beispiel. Das probiert man eben irgendwann aus. Die Eltern wollen das verhindern.

Sanchita: Das gibt es bei uns auch. Ich kenne viele Mädchen aus Sri Lanka, deren Eltern sehr streng sind. Die nach der Schule vor der Haustür auf ihre Töchter warten. Für sie gibt es nur die Familie und ein bisschen Fernsehen, das ist alles. Bei uns in der Familie ist das aber anders.

Songül, wie sieht es mit deiner Freiheit aus? Ist es ein Problem, dass du mit 26 noch nicht verheiratet bist?

Songül: Das Thema läuft schon seit Jahren. Ich will irgendwann den Mann heiraten, den ich haben möchte. Aber mein Vater will, dass ich jemanden aus seiner Familie heirate. Für einen Vater ist es sehr schwer, wenn die Tochter zu viel weiß und gegen eine Verheiratung argumentieren kann. Meist sage ich, lass mich erst mal meine Ausbildung zu Ende machen; ich mache gerade mein Fachabitur nach. Wir streiten oft darüber. Letztens habe ich zu meinem Vater gesagt: Wirst du mit ihm schlafen oder ich? Da war er natürlich sauer, dass seine Tochter so mit ihm spricht. Als Tochter muss man sehr politisch vorgehen und immer zehn Schritte vorausdenken. Sonst ist man ausgeliefert.

Hast du Schwestern? Sind sie schon verheiratet? Sehen sie das genauso wie du?

Songül: Meine älteste Schwester wurde nicht gefragt, bei meiner zweiten Schwester war es so teils, teils, und meine dritte Schwester hat sich einen Mann ausgesucht, der aus dem kurdischen Kulturkreis kommt. Und sie hat die Quittung dafür bekommen: Sie wurde aus der Familie ausgestoßen. Es gibt jetzt keinen Kontakt mehr.

Wegen der Familienehre?

Songül: Ja, mein zweiter Bruder war damals außer Rand und Band. Er hat versucht, mit ihr zu reden, aber er wurde von anderen hochgepuscht. Das ist ein richtiger Psychoterror innerhalb der Familie, die Jungen können gar nicht mehr selbst denken. Die Eltern stacheln die Söhne an: Hilfe, unsere Ehre ist beschmutzt. Dagegen muss man etwas tun. Ich habe gefragt: Wo hat sie denn eigentlich unsere Ehre beschmutzt? Nur weil er Kurde ist und nicht in unsere Familiennormen passt? Sie ist nach allen Regeln verheiratet.

Hätte es zu einem Ehrenmord kommen können?

Songül: Ja. Ich habe damals zu meinem Bruder gesagt: Du hast eine Frau und zwei Kinder. Lohnt es sich, ins Gefängnis zu gehen? Was ist dann? Meine Schwägerin hat ihn angefleht: Bitte, mach es nicht, es nützt nichts! Jetzt darf meine Schwester nicht mehr zu uns kommen.

Aylin: Vielen Jungs wird von den Familien beigebracht: Du bist der Herr im Haus, du musst die Ehre und den Stolz der Familie verteidigen. Die lernen das einfach so. Manche ändern später vielleicht ihre Ansicht. Aber die meisten wollen keine Versager sein, sondern zeigen, dass sie die Ehre schützen können. Der Druck von den Älteren in der Familie, auch von Onkeln und Großeltern, ist sehr stark. Viel zu stark.

Songül: Es gibt auch Jungs, die sich darüber Gedanken machen. Ein Freund von mir ist 20, er macht Abitur und will studieren. Er soll jetzt seine Cousine heiraten und sagt: Ich will sie nicht, ich liebe sie doch gar nicht, was soll ich machen?

Fatma: Wir haben zu Hause darüber geredet. Mein Bruder sagt: Sind die blöd? Was bringt denn das heutzutage? Wer profitiert denn davon? Es bringt doch nur Leid mit sich. Es ist traurig, dass diese Kultur nicht aufwacht. Es gibt aber auch Familien, die verändern sich, die legen diese Traditionen ab.

Aylin: Bei uns wird nicht darüber geredet. Aber alle haben dieselbe Meinung. Sie finden, die Ehre muss geschützt werden.

Heißt das, ihr müsstet mit dem Schlimmsten rechnen, wenn ihr euch selbst einen Mann aussucht – und dann auch noch den falschen?

Aylin: Ja, die Angst wäre schon da.

Sanchita: Bei uns wird die Hochzeit generell von den Eltern arrangiert, im Ausland allerdings weniger stark als in Sri Lanka. Es wird selten mit den Mädchen selbst geredet, aber zum Teil hat sich das verändert. Unter Sri-Lankern in Deutschland ist es so, dass man jemandem vorgestellt wird, aber man kriegt dann auch Zeit, den besser kennen zu lernen. Bei mir ist das aber noch kein großes Thema.

Fatma: Wie würden deine Eltern darauf reagieren, wenn du mit einem Jungen zusammen wärst, der nicht aus deinem Kulturkreis stammt? Zum Beispiel aus deiner Schulklasse?

Sanchita: Mein Cousin ist jetzt 28, und er ist mit einem armenischen Mädchen zusammen. Am Anfang dachte ich, das geht nicht. Aber er hat sich durchgesetzt, und am Ende war es gar nicht so ein großes Problem.

Fatma: Aber wie ist es, wenn ein Mädchen so etwas macht?

Sanchita: Bei einem Mädchen könnte ich mir vorstellen, dass es verstoßen wird. Die Familienehre hat auch in unserer Kultur eine enorme Bedeutung. Letztens habe ich mitbekommen, dass ein Mädchen mit einem Jungen abgehauen ist. Die Familie wurde deshalb total runtergemacht.

Fatma: Das gibt es in türkischen Familien auch. Aber trotzdem ist der Eindruck falsch, der derzeit überall herrscht: Alle türkischen, alle muslimischen Frauen werden unterdrückt. Das stimmt nicht. Es gibt auch Frauen, die leben, wie sie wollen. Genau wie deutsche Frauen.