piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Dauerläufer zieht alle mit

Patrick Vieira hat Frankreich intelligent ins heutige Halbfinale geführt

aus HAMELN ANDREAS RÜTTENAUER

Im Sommer 2005 war der französische Fußball an einem Tiefpunkt angelangt. Das Wort von der „Kultur des Unentschiedens“ machte die Runde. Und Patrick Vieira stand als Kapitän einer äußerst gewöhnlichen französischen Nationalmannschaft fast symbolisch für diese Kultur. Seine Autorität, wie auch die des Teams, lag in den Erfolgen der Vergangenheit begründet. Spielerisch hatte Vieira ohnehin schon ein ganzes Jahr lang nicht mehr überzeugen können, bei seinem damaligen Club Arsenal genauso wenig wie in der Nationalmannschaft.

Die sah noch vor einem Jahr ganz anders aus als heute. Am meisten haderte sie mit dem System – das es schlichtweg nicht gab. Vieira, der damals 28-Jährige, erfüllte brav seine Pflichten im defensiven Mittelfeld, mehr nicht. Weil er zu den großen Alten gehörte, die Welt- und Europameister geworden waren, genoss er den Status eines Unberührbaren. Der heftig umstrittene Nationaltrainer Raymond Domenech strickte gar eine Legende um seinen damaligen Spielführer Vieira. Angeblich hatte Domenech ihn ausgesandt, um Zinedine Zidane, Claude Makelele und Lilian Thuram zur Rückkehr in die Nationalmannschaft zu überreden. Die Sage endete, wie man im heutigen Halbfinale gegen Portugal wieder sehen wird, glücklich: Zidane, Makelele und Thuram werden spielen. Und auch wenn es vielleicht nicht ganz stimmt, dass es Vieiras Überredungskünste waren, die die vier wieder zusammengeführt haben, so gilt die Rückkehr der alten Männer doch als das große Verdienst des damaligen Kapitäns.

Er übergab die Spielführerbinde an Zinedine Zidane und verschwand aus den Schlagzeilen. Vieira spielte eine durchschnittliche Saison bei Juventus Turin, deren emotionaler Höhepunkt das Champions-League-Viertelfinale gegen Arsenal London war. Vieira wurde bei seiner Rückkehr nach Highbury vor Anpfiff von den englischen Fans gefeiert und war sichtbar gerührt. Als das Spiel lief, verlor er einen Ball im Mittelfeld und ein paar Sekunden später stand es 1:0 für Arsenal. Vieiras Verdienste aus der Vergangenheit waren der Gegenwart nicht gewachsen.

Ähnliches lässt sich über die Nationalmannschaft sagen. Zwar gewann sie ihre Qualifikationsgruppe, doch dem entscheidenden Sieg in Irland fehlte jeder Glanz und Stil. Trotzdem kündigte Trainer Domenech an: „Wir fahren nach Deutschland, um zu gewinnen.“ Doch niemand konnte sich so recht vorstellen, wie das gelingen sollte. Es wurde diskutiert, ob der französische Fußball insgesamt an mangelnder Inspiration kranke. Viel zu oft hätte die Mannschaft 0:0 gespielt, rechnete die Sporttageszeitung L’Equipe kurz vor Ende der Saison vor. Auch die Zuschauer wurden der lahmen Kicks müde. Die „Kultur des Unentschiedens“ schien endgültig gesiegt zu haben.

Zu Beginn der Weltmeisterschaft in Deutschland suchte die französische Mannschaft ihren Stil noch immer. Das 0:0 im Auftaktspiel gegen die Schweiz zeugte von Unentschlossenheit, gar Angst. Vieira erging es wie der ganzen Mannschaft, in der zwar jeder wusste, wo sein Platz auf dem Feld war, aber kaum einer mehr als Dienst nach Vorschrift leistete: Die Spieler, von denen sich die Öffentlichkeit am meisten erwartet hatten, spielten nicht schlechter als die anderen im Team. Sie waren Durchschnitt. Im Zentrum der teils hämischen Kritik stand Patrick Vieira. Er schien körperlich nicht fit zu sein, kam mit seinen Gegenspielern nicht mit, verlor ein ums andere Mal seine Zweikämpfe und regelmäßig den Ball. Er schien am Ende. Vor der Partie hatte Raymond Domenech noch gesagt: „Ich bin überzeugt davon, dass Vieira einer der stärksten Spieler der WM sein wird.“

Dass der französische Trainer noch Recht behalten könnte – wer hätte das gedacht? Nach dem Einzug ins Halbfinale, auch nach dem Achtelfinal-Erfolg gegen Spanien, sprach alle Welt von Zinedine Zidanes Abschiedsgala in Deutschland. Doch wer nach den Gründen für die plötzliche Leistungssteigerung fragte, der bekam nicht selten den Namen Vieira zu hören. Franck Ribéry schwärmte zwei Tage vor dem Spiel gegen Portugal von Vieiras Dynamik. Auch Lilian Thuram lobte die Auftritte seines Kollegen. Ob er, Thuram, nicht auch einmal Lust hätte, aus der Defensive ganz nach vorne aufzurücken, wurde er gefragt: „Nein, das ist nicht meine Aufgabe. Patrick kann das sowieso viel besser.“ Die zwei WM-Tore Vieiras sprechen für Thurams These.

Wenn Zinedine Zidane von seinen Mitspielern bewundert wird, zieht Vieira sie mit. Als biederer Ausputzer in die WM gestartet, bespielt der drahtige Dauerläufer mittlerweile das gesamte Feld. Er hat verstanden, dass er sich Freiheiten nehmen kann, wenn das System der Franzosen grundsätzlich funktioniert. Er ist es, der das Spiel seiner Mannschaft intelligent gestaltet, weil er für andere verborgene Möglichkeiten zu nutzen weiß. Ist er vorne, weiß er, dass er hinten nicht fehlt. Seine Mitspieler wissen, dass sie sich auf Vieira verlassen können. Allein seine schiere Präsenz hat der Mannschaft Sicherheit gegeben. Gegen Spanien war er sowohl Spielgestalter als auch Defensivstratege. Gegen Brasilien musste er sich zurückhalten, war in den wichtigen Momenten dennoch immer am Spielaufbau beteiligt.

Als in der Vorrundenpartie gegen Südkorea zehn Minuten vor Schluss der Ausgleich für die Asiaten fiel, war er stinksauer. Doch während sich seine Mitspieler beklagten, dass allein der Schiedsrichter schuld am vergebenen Sieg sei, weil er einen Ball Vieiras nicht, wie alle anderen auf dem Platz, hinter der Linie gesehen hatte, zeigte sich der verhinderte Torschütze kämpferisch: „Wir sind noch nicht tot“, sagte er und begann endlich zu zeigen, was er wirklich kann.

Die einst ängstlichen Ballstreichler aus Frankreich haben dank Vieira doch noch zu ihrem Stil gefunden. Über Domenechs Zielvorgabe, Weltmeister zu werden, lacht deshalb niemand mehr.