Der Chef

Kündigen im öffentlichen Dienst, den 1. Mai als Feiertag abschaffen, Thälmann zersägen: Dank Martin Lindner macht die FDP ordentlich Wind. Und erhöht die Bezüge des Fraktionsvorsitzenden

„Schließlich habe ich hier einen Fulltimejob“

von ROBIN ALEXANDER

Der Mann fühlt sich umstellt: „Wohin man hier auch blickt: Alle fixiert auf den Staat.“ Martin Lindner, 39, Fraktionschef der FDP im Abgeordnetenhaus, klagt über den Sozialdemokratismus, den er in Berlin nicht nur bei SPD und PDS wuchern sieht, sondern auch bei den Grünen und sogar der CDU. Überall verkappte Rote! Denen mag Macht und Stadt gehören, den Liberalen gehört dafür das Reich der Träume.

Bei abgehobenen Vorschlägen ist die FDP deutlich Marktführer. Statt kleinteiligem Solidarpakt soll es lieber betriebsbedingte Kündigungen im öffentlichen Dienst geben. Notfalls ändert man eben das Personalvertretungsgesetz. Auch über eine Ausweitung des Ladenschlussgesetzes muss nicht lange gestritten werden. Man erklärt Berlin einfach zum Notstandsgebiet. Zum 17. Juni fordert Lindner die Einrichtung eines Feiertages für den Arbeiteraufstand – und will dafür den 1. Mai abschaffen. Je geringer im Sommer die Dichte der politischen Themen, desto schriller wird Lindner: Über das Boulevardblatt Berliner Kurier fordert er ein „Oben-ohne-Verbot in der City“ oder – wie vorige Woche – „Thälmann-Denkmal: zersägen und vergraben“.

Nun wäre es unfair zu behaupten, die vierzehnköpfige liberale Fraktion im Abgeordnetenhaus produziere nur heiße Luft. Aber zu den Talenten ihres Vorsitzenden gehört unzweifelhaft, heiße Luft aggressiv zu verkaufen. Der Noch-Landesvorsitzende Günter Rexrodt drückt das so aus: „Herr Lindner spitzt wichtige Themen so zu, dass die FDP wahrgenommen wird.“ Auch Lindner selbst ist zufrieden: „Die FDP kommt wieder vor in der Stadt.“

Das war lange nicht so: Als außerparlamentarischer, zerstrittener Haufen vertrödelte die Berliner FDP die zweite Hälfte der Neunzigerjahre. Dann kam Jürgen W. Möllemann mit seiner Projekt-18-Welle, spülte die FDP mit unglaublichen 9,9 Prozent ins Abgeordnetenhaus und um ein Haar sogar in einen Ampelsenat. „Aber plötzlich war der Hype von heute auf morgen vorbei“, erinnert sich Lindner, „und wir saßen allein im Abgeordnetenhaus – ohne Mitarbeiter, ohne Netzwerke, sogar ohne Spitzenkandidat.“ Denn Rexrodt war schnell wieder im Bundestag verschwunden. Lindner, der keinerlei parlamentarische Erfahrung aufwies, organisierte die Fraktion wie eine Agentur, die Inhalte mit begrenztem Haltbarkeitsdatum schnell auf den Markt wirft. Die FDP-Fraktion verschickt die meisten Pressemitteilungen. Die FDP-Fraktion hat die freundlichste Sprecherin. Der FDP-Fraktionsvorsitzende hält die schmissigsten Reden. „Ein Supererfolg war unsere BSR-Kampagne“, sagt Lindner über die nicht enden wollende Beschäftigung der FDP mit Unregelmäßigkeiten bei der Stadtreinigung.

Lindner ist eher Chef der Fraktion als ihr Vorsitzender. Die Rolle liegt ihm. Nie sieht man ihn ohne Anzug. Seine Gestik ist die eines Machers. Mit Untergebenen, die es nicht bringen, hat er wenig Geduld. Lindner zu chauffieren sei der unbeliebteste Job, den die Fahrbereitschaft zurzeit zu vergeben hat, hört man im Abgeordnetenhaus. Neuerdings wird er auch bezahlt wie ein Chef: In ihrer Sitzung vom 18. März erhöhte die Fraktion rückwirkend zum Jahresanfang Lindners monatliche Bezüge auf stolze 10.328 Euro. Das ist das Dreieinhalbfache dessen, was ein normaler Abgeordneter bekommt. Bis dahin reichte Lindner das Doppelte. Er findet es angemessen, jetzt so viel wie ein Senator zu verdienen: „Schließlich habe ich hier einen Fulltimejob und kann nicht – wie ich eigentlich beabsichtigte – nebenbei weiter als Anwalt arbeiten.“

Mit dem Fulltimejob hat er sicher Recht: Lindner schmeißt den Laden fast alleine. Die Bildungsexpertin Mieke Senftleben hält tapfer das liberale Fähnchen in der Schuldebatte hoch. Der Innenpolitiker Alexander Ritzmann, der Verkehrspolitiker Klaus-Peter von Lüdecke und der Zuständige für den Klinikkonzern Vivantes, Martin Matz, erklären sich ab und an öffentlich – sonst kommt nicht viel aus der Fraktion. „In diesem Herbst wollen wir uns auf den Haushalt konzentrieren“, verspricht Lindner: „Da steigt unser Abgeordneter Christoph Meyer voll ein.“ Vorher muss der 28-Jährige allerdings noch Examen machen. Bis dahin bleibt Lindner der einzige Volljurist in der Fraktion.

Ein Neoliberaler ist der Wahl-Dahlemer mit dem konservativen Habitus nicht. „Sparen allein reicht nicht“, insistiert Lindner, „bei unseren Schwerpunkten Bildung, Kultur, Wissenschaft und Wirtschafts müssen wir sogar draufsatteln.“ Der letzte, der solches zu fordern wagte, war Gregor Gysi. Die regierende PDS hat nichts davon erfüllen können und leidet heute unter dem Populismus ihres früheren Kandidaten. Der mit Leidenschaft und Talent gesegnete Redner Linder scheut keine Konfrontation. Im Gegenteil: Lindner polemisiert auch als Gast von Veranstaltungen der linken Bankeninitiative mit Courage und Lust.

„Unsere Kampagne war ein Supererfolg“

Ein Reformer in seiner Partei ist er nicht. Dabei wäre dort einiges zu tun: Bisher bestimmten die klüngelbeherrschten Bezirke, wer für das Abgeordnetenhaus nominiert wird. Und – so ätzen Parteifreunde: „Genauso sieht die Fraktion auch aus.“ Wer ins Parlament will, müsste zumindest einmal eine halbwegs akzeptable Rede auf einem Parteitag halten, gäbe es eine Landesliste. Aus der Vorstandskommission, die diese überfällige Neuerung vorbereitet, hat sich Linder jedoch still verabschiedet. Heute möchte er nicht sagen, ob er für oder gegen die Abschaffung der Bezirksliste ist. Hintergrund des Lavierens: Lindners Chefrolle hängt am Wohlwollen der Abgeordneten aus den großen Bezirken im Südwesten Berlins, die ihn gewählt haben und Reformen fürchten. Günter Rexrodt, der zu seinem Abschied vom Landesvorstand gern eine zukunftsfähige Struktur hinterlassen würde, hat Lindners Verhalten öffentlich so kommentiert: „Er hat sich in Abhängigkeit derer begeben, die mit Blick auf ihre Karriere ihr eigenes Süppchen kochen.“

Das Sammeln von karrierebewussten Unterstützern wird noch wichtiger für Lindner werden. Im kommenden Jahr wird noch ein Chefposten frei. Dann tritt Günter Rexrodt nicht mehr als Landesvorsitzender an. „Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich kandidiere“, weicht Lindner aus. Seine Anhänger meinen: Als einziger FDP-Politiker, der öffentlich wahrgenommen wird, liefe ganz automatisch alles auf ihn zu.

Vielleicht sind sie sich da zu sicher: Es wird Gegenkandidaten geben. Die fünffache Mutter Mieke Senftleben hat Ambitionen, auch Alexander Pokorny, der sich als Bürgerrechtler sieht, schließt eine Kandidatur nicht aus. Der Bundestagsabgeordnete und ehemalige Grüne Markus Löning gilt vielen als vorsitzfähig. Alle drei stehen für einen nicht nur wirtschaftsfixierten Ansatz der FDP. Früher hätte man sie vielleicht Sozialliberale genannt. Wenn er Pech hat, fühlt sich Lindner bald auch in der eigenen Partei von Roten umstellt.