■ Der CDU-Fraktionschef über nationale Identität (FAZ): What's wrong with Schäuble?
Seit Jahr und Tag versuchen uns empirische Soziologen zu erklären, daß es angesichts der Vielfalt individueller Lebensstile und kultureller Milieus gänzlich vergeblich ist, nach einem die Gesellschaft einenden Werte-Konsens zu fahnden. Daraus zu schließen, der Zusammenhalt unseres Gemeinwesens sei „in vielen Bereichen in Auflösung begriffen“, Gemeinsinn und Bürgersinn würden „verkümmern oder gar verächtlich gemacht“, so Wolfgang Schäuble in der gestrigen Nummer der FAZ, ist ein wenig voreilig. Solche Weheklagen kommen auch selten aus ehrlich verzweifelter, wertkonservativer Grundstimmung. Sie werden cool kalkuliert als Präludium eingesetzt, dem dann das eigentliche Thema folgt, Bei Schäuble ist es, small wonder!, die Nation – „das Band, das unser Gemeinwesen zusammenhält und Identität stiftet“.
Die Nation, sagt Schäuble wohlgemerkt, nicht die Bundesrepublik Deutschland. Also nicht der demokratische Verfassungsstaat. Ihm anzuhängen ist nach Schäuble zwar lobenswert, aber unzureichend. Denn in der Stunde der Wahrheit, wenn's ans Teilen und Verzichten geht, „reicht die schiere Vernunft allein nicht aus, um auftauchende Mühsal zu akzeptieren und zu bewältigen“. Wie aber soll das rechte Verständnis der „Nation“ den Bürgern nahegebracht werden? Und zwar dergestalt, daß sie bereit sind, auf den „Egotrip“ zu verzichten? Ist es so, daß das Nationalgefühl nur schläft, nur verschüttet ist, also wachgerüttelt werden kann, wenn wortgewaltige Fastenprediger ihre Stimme erheben? Oder müssen Schäuble und seine Freunde nicht der bitteren Wahrheit ins Gesicht sehen, daß die Einwohner der Bundesrepublik zwar die Städte und Landschaften lieben, in denen sie groß geworden sind, aber kaum die deutsche Nation. Keinesfalls mangelt es den Deutschen am Bewußtsein ihrer Unverwechselbarkeit (jeder Auslandsbesuch macht das – oft schmerzlich – klar). Aber dieses Bewußtsein zur Idee der Schicksalsgemeinschaft zu steigern, dazu bedarf es des ganzen Einsatzes. Es geht um Abgrenzung, um Angstproduktion, um die Erziehung zum Gefühl nicht der Anders-, sondern der Einzigartigkeit. Schäuble mag noch so eilfertig versichern, daß sich die von ihm geforderte nationale Identität gegen niemand anders richten dürfe. Aber genau das ist das Elixier, aus dem sie ihre Kraft beziehen müßte!
Hätte Schäuble nicht Fichte, sondern Alexis de Tocqueville studiert, so wäre ihm aufgegangen, daß demokratischer Gemeinsinn stets und immer aus Zusammenschlüssen der Bürger entstanden ist. Oft genug sind diese Zusammenschlüsse Opfer der Kirchturmpolitik. Aber sie sind es zugleich, in denen sich, unkoordiniert und anarchisch-dezentral, Selbstbewußtsein und Gemeinsinn bildet. Schicksalsgemeinschaft oder Selbsttätigkeit der Bürger. Die Alternative zwischen Rechts und Links ist alles andere als überholt! Christian Semler
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